Redelings Nachspielzeit

"Ein traumatischer Denkzettel" Als die Bayern die "Mutter aller Niederlagen" kassierten

Untröstlich in Barcelona: Lothar Matthäus.

Untröstlich in Barcelona: Lothar Matthäus.

Die Nacht von Barcelona, als der FC Bayern München in der Nachspielzeit den Champions League Titel innerhalb von Sekunden an Manchester United vergab, ist 25 Jahre her – und doch unvergesslich. Lothar Matthäus stellt sich anschließend die Frage aller Fragen.

"Fünf Minuten stand ich fast regungslos in der Nähe der Bank. Ich war wie gelähmt. Ich wollte mich irgendwie bewegen. Es ging nicht!" Lothar Matthäus hat damals in diesen Minuten des 26. Mai 1999 nach dem dramatischen Finale im Stadion Camp Nou des FC Barcelona am ganzen Körper gespürt, dass es für ihn in seiner Karriere nichts mehr werden wird mit dem Gewinn der Champions League. Und - er stellte sich die Fragen aller Fragen nach den zwei Toren für Manchester United in der Nachspielzeit: "Hat Gott nicht gewollt, dass ich diesen Pokal erstmals in den Händen halte?"

Diese legendäre Nacht Ende Mai vor 25 Jahren ist in die Geschichtsbücher des Fußballs eingegangen, als ein Symbol dafür, dass eine Partie erst gewonnen oder verloren ist, wenn der Schiedsrichter zum letzten Mal in die Pfeife bläst. Alles an diesem Abend hatte bis zur 90. Minute so ausgesehen, dass der FC Bayern München als Sieger den Platz in Barcelona verlassen würde. Oliver Kahn hat später einmal dieses unvergessliche Ereignis der Fußballhistorie so wunderbar in Worte gekleidet, als er sagte: Das 1:2 gegen Manchester United in der Nachspielzeit des Champions League Finals des Jahres 1999 im Camp Nou von Barcelona sei die "Mutter aller Niederlagen" gewesen.

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Es ist wahrlich kein großes, kein hochklassiges Fußballspiel gewesen, das der englische Meister Manchester United und der FC Bayern München an diesem Abend den Zuschauern in Spanien präsentierten. Sinnbildlich dafür steht ein Zitat von Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld, der einmal gemeint hat: "Wir haben drei erstklassige Stürmer plus Alexander Zickler." Und genau dieser Zickler spielte von Beginn an - und war nicht einmal der schlechteste Akteur auf dem Feld. Auf Seiten von Manchester United fehlten die gesperrten Hochkaräter Roy Keane und Paul Scholes. Und so lebte die Partie vor allem vom Kampf, der Leidenschaft - und natürlich am Ende von der Dramatik.

Worte, die zur Legende wurden

Bereits in der sechsten Minute hatte Mario Basler die Münchener mit einem Freistoß in Führung gebracht. Danach entwickelte sich bis zur Pause ein offener Schlagabtausch mit wenigen echten Chancen auf beiden Seiten. Das schmeckte dem Coach von Manchester United, Alex Ferguson, natürlich überhaupt nicht. In der Halbzeit stellte sich der Schotte vor sein Team und sprach Worte, die im Nachhinein zu einer Legende wurden: "Der Pokal steht nur ein paar Meter neben dem Spielfeld, aber wenn wir verlieren, dürft ihr ihn nicht einmal berühren. Ich sage euch: Viele von euch werden nie näher an diesen Pokal herankommen. Wagt also nicht, in die Kabine zurückzukommen, wenn ihr nicht euer Bestes gegeben habt." Doch die Ansprache des Trainers schien erst einmal keine durchschlagende Wirkung zu haben.

Auch in der zweiten Hälfte hatten die Bayern die besseren Möglichkeiten auf ihrer Seite. Und allen Fans im Stadion und den Millionen Zuschauern vor den TV-Geräten war klar: Hätte entweder der Pfostenschuss von Mehmet Scholl oder der Lattenknaller nach einem Fallrückzieher von Carsten Jancker den Weg ins Tor anstatt ans Aluminium gefunden - die Partie wäre entschieden gewesen.

Am nächsten Tag beschrieb eine englische Zeitung diese außergewöhnlichen Minuten des Teams von Manchester United so: "Sie konnten nicht gewinnen wie eine normale Mannschaft. Nicht diese Männer. Nicht diese bemerkenswerten, unaufhaltsamen und unschlagbaren Männer von Manchester. Fergusons Götter." Mario Basler erinnerte sich später so an diese Momente: "Als ich damals in der 89. Minute ausgewechselt wurde, war der Champagner schon auf dem Weg zu uns. Die Mützen waren bereitgelegt. Eine hatte ich sogar schon ganz kurz auf."

"Stell nochmal kalt, das dauert noch ein bisschen"

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Doch dann kam das, was Stefan Effenberg später einmal so beschrieb: "So ist Fußball. Als Spieler darfst du nie abschalten, bevor der Schiri abpfeift. Es war ein traumatischer Denkzettel für uns alle. Eine Lehre, die wir alle aus diesem Finale für den Rest unserer Karriere mitnahmen." Und der damals dreißigjährige Mittelfeldspieler war unmittelbar beteiligt, an dem, was nach der 90. Spielminute an Dramatik folgte. Denn nach einem unnötigen Babbel-Rückpass hatte Stefan Effenberg auf Kosten einer Ecke klären müssen.

Und weil sich Manchesters Keeper Peter Schmeichel bereits im Strafraum des Rekordmeisters befand, geriet die Zuordnung der Bayern kurzfristig in Unordnung. Nach einem verunglückten Befreiungsschlag aus dem Tumult heraus landete der Ball bei dem eingewechselten Teddy Sheringham - und er schoss nach genau 90 Minuten und 36 Sekunden die Kugel zum Ausgleich ins Netz der Bayern. Mario Basler schüttelte draußen an der Linie den Kopf und guckte auf den Champagner: "Da sagte ich zu unserem Zeugwart Charly: Stell noch mal kalt, das dauert noch ein bisschen."

Doch der Mittelfeldspieler der Bayern sollte sich täuschen. Nur knapp 30 Sekunden nach dem Ausgleich erkämpfte sich Manchester einen Eckball. Beckham flankte, Kahn wollte sich Platz verschaffen, schubste Kuffour deshalb etwas zur Seite, damit stand Sheringham frei, der verlängerte den Ball und der ebenfalls eingewechselte Solskjaer drückte die Kugel nach 92 Minuten und 17 Sekunden über die Linie. Kommentator Clive Tyldesley sollte wenige Augenblicke später seine legendären Worte ins TV-Mikrofon sprechen: "Manchester United have reached the Promised Land!"

Ferguson erinnert an Busby

Und Basler? Der schmiss seine Mütze zur Seite und rannte in die Kabine: "Ich habe mir sofort eine Zigarette angesteckt. Dann kam Franz. Wir haben fünf, sechs Minuten gar nicht gesprochen, nur den Kopf geschüttelt. Dann kamen die Jungs. Die Stimmung wurde natürlich nicht besser."

Draußen stammelte ein total enthemmter Alex Ferguson in die Kameras: "Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Fußball, bloody hell!" Und nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte, erinnerte er an den großen Trainer von Manchester United, Matt Busby, der am 6. Februar 1958 bei einem Flugzeugabsturz in München große Teile seiner Mannschaft, genannt die "Busby Babes", verloren hatte: "Heute wäre der 90. Geburtstag von Sir Matt Busby gewesen. Er hat bestimmt da oben rumgekickt."

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Und bei den Bayern? Da feierten später einige Spieler oben ohne zu Discomusik - und ganz besonders einer: Mario Basler. Er machte die Nacht zum Tag: "Beim Präsidium habe ich den Tisch kaputt getanzt. Da rief mir Rummenigge hoch: Du bekommst einen Vertrag auf Lebenszeit. Da rief ich: Da müssen aber zwei unterschreiben." Und tatsächlich war Basler zwei Jahre später nicht mehr mit dabei, als der FC Bayern München im Elfmeterschießen gegen den FC Valencia den Champions League Pokal holte. Für die anderen Spieler wie Kahn, Jeremies, Scholl, Jancker, Linke, Kuffour oder Effenberg war die "Mutter aller Niederlagen" eine Offenbarung. Die simple Weisheit, dass ein Spiel erst zu Ende ist, wenn der Schiedsrichter das letzte Mal in seine Pfeife geblasen hat, hatte dieses Team auf die schmerzhafteste Weise, die es überhaupt geben kann, verinnerlicht. Die engen Meisterschaftskämpfe in den Jahren 2000 gegen Leverkusen und 2001 gegen Schalke waren Ausdruck dieser neu gewonnenen mentalen Stärke. Jens Jeremies hat einmal gesagt: "Diese Schmach von Barcelona hat uns die Kraft gegeben, nicht lockerzulassen, bis wir es sind, die ganz oben stehen." Und genau das haben sie schließlich mit dem Champions League Gewinn im Jahr 2001 geschafft.

Doch für einen kam dieser Triumph zu spät. Lothar Matthäus, der vor 25 Jahren schon einige Minuten vor dem Drama der Nachspielzeit vom Platz gegangen war, hatte die Bayern im Frühjahr 2000 verlassen. Der 26. Mai 1999 ist seine letzte große Chance auf die Champions League Titel geblieben. Damals hatte er in den Tagen vor dem Finale in Barcelona insgeheim einen Plan gefasst: "Wenn du alle drei Titel holst, das wäre doch ein schöner Abgang. Da bleibst du den Leuten in Erinnerung." Dieser letzte Triumph ist Lothar Matthäus verwehrt geblieben. Den Leuten ist er aber auch so nach dieser "Mutter aller Niederlagen" bis heute in allerbester Erinnerung.

Quelle: ntv.de

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