Fußball-WM 2018

WM-Kracher gegen Kolumbien "England kann auch ohne Elfer ausscheiden"

Die Offensive um Harry Kane hat sich bislang vor allem bei Standardsituationen hervorgetan.

Die Offensive um Harry Kane hat sich bislang vor allem bei Standardsituationen hervorgetan.

(Foto: imago/Focus Images)

Mit zwei Siegen startet England so erfolgreich wie lange nicht in die Fußball-WM, vor allem das Rekord-Schützenfest gegen Panama sorgt für Euphorie und Zuversicht in der Heimat. Gegen Belgien setzt es jedoch einen ersten Dämpfer - und jetzt wartet im Achtelfinale mit Kolumbien "ein sehr guter und schwerer Gegner, der viel Respekt verdient", warnt Archie Rhind-Tutt. Der Londoner berichtet unter anderem für den "Evening Standard" und die BBC von der WM in Russland und ansonsten als Wahl-Kölner über die Fußball-Bundesliga. Das deutsche Aus habe in der Heimat "natürlich Riesenschadenfreude" ausgelöst, an Englands Durchmarsch zum Titel glaubt er indes nicht: "Aber natürlich hat England das Potenzial, mindestens das Halbfinale zu erreichen." Das Duell mit Kolumbien sieht er als "Riesenherausforderung und Riesenchance" für Englands Coach Gareth Southgate. Offiziell tippt er im Achtelfinale trotzdem nicht auf Englands Team - aus fußballtaktischen Gründen.

n-tv.de: Englands Angstgegner Deutschland ist bei der WM schon ausgeschieden. Kann jetzt nur noch ein Elfmeterschießen den Titelgewinn der "Three Lions" verhindern?

Archie Rhind-Tutt: (lacht) Ich fürchte, dass England auch ohne Elfmeterschießen ausscheiden könnte. Bislang haben sie noch nicht gegen eine richtig gute Mannschaft gespielt. Den Belgiern haben im letzten Gruppenspiel neun Spieler gefehlt, England acht, das macht einen Riesenunterschied. Aber klar, diese englische Mannschaft ist viel dynamischer als früher und eine Einheit. Das kann eine ziemlich große Rolle spielen.

Wie wurde das deutsche Aus in England aufgenommen?

Da war natürlich Riesenschadenfreude dabei. Für die meisten englischen Fans ist Deutschland ein großer Rivale - was andersherum vielleicht nicht mehr so ist, weil England in der Vergangenheit ja kaum gegen Deutschland gewonnen hat. Mein Eindruck ist, dass viele Engländer die deutschen Spieler für etwas arrogant halten, obwohl viele die "Best never rest"-Marketingkampagne gar nicht mitbekommen haben. Aber sie finden: Ein bisschen Bescheidenheit würde dem DFB ganz gut tun.

Anders als Deutschland hat England bei dieser WM durchaus Bewunderer gewonnen, obwohl es nach dem Last-Minute-Sieg gegen Tunesien und dem Rekord-Schützenfest gegen Panama gegen den ersten richtigen Gegner Belgien eine Niederlage gab. Wie ist die Stimmung in England?

Die Stimmung ist viel besser als in den letzten Jahren, weil wir endlich Spiele bei einem großen Turnier gewonnen haben. Daran sind Engländer nicht gewöhnt! Aber trotzdem erkennen die englischen Fans schon an: Ja, es gab große Siege - aber richtig losgegangen ist das Turnier für ihr Team noch nicht. Vor dem ersten K.-o.-Spiel spüre ich ein bisschen mehr Nervosität, jetzt wird schon gezittert. Wir haben es in der Vergangenheit erlebt: In der K.-o.-Phase ging es für England normalerweise ziemlich schnell schief.

Bei den vergangenen Turnieren gab es vor Beginn tatsächlich oft mittelgroße bis große Hoffnungen, ehe es mit englischer Schmach und Enttäuschung endete - zuletzt bei der EM 2016 gegen Island. Warum könnte es diesmal anders laufen?

Mittelgroße Erwartungen? Das Problem in England ist, dass immer alles schwarzweiß betrachtet wird. Wenn man ein Turnier gewinnt, war es erfolgreich - alles andere war es nicht.

Das ist kurios, angesichts nur einer Finalteilnahme bei Europa- und Weltmeisterschaften: 1966 bei der - auch dank Wembley-Tor - gewonnenen Heim-WM.

Genau. Diese Sichtweise muss sich in England ändern, wenn man künftig Erfolg haben möchte. Kann das Turnier für England diesmal anders laufen? Viele Fans und Experten sagen, dass die Mannschaft viel bessere Chancen hat, weil historisch große Mannschaften nicht dabei sind und England in der leichteren Turnierhälfte ist. Aber ich glaube, dass England seine Gegner nicht unterschätzen darf. Genau das haben andere Mannschaften getan, und wir sehen jetzt wo Deutschland ist. Oder wo Italien ist, das es in den Playoffs gegen Schweden gar nicht erst zur WM geschafft hat. Ein großer Name bedeutet gar nichts in Länderspielen. Es ist zwar immer noch ein bisschen zu früh für Prognosen: Aber natürlich hat England das Potenzial, mindestens das Halbfinale zu erreichen. Kolumbien ist im Achtelfinale allerdings ein sehr guter und schwerer Gegner und verdient sehr viel Respekt.

Wer geht als Favorit in dieses Achtelfinale?

Es ist ziemlich ausgeglichen, aber für mich ist Kolumbien der Favorit. Es kommt darauf an, ob James Rodríguez fit ist. Für England wäre es ein Riesenvorteil, wenn er nicht spielen kann. Ich habe nicht alle Spiele von Kolumbien sehen können, aber sie haben mit José Pékerman eine fantastische Bilanz gegen europäische Mannschaften in WM-Spielen. Das spricht für eine riesige taktische Stärke von Pékerman. Besonders offensive Außenverteidiger können die Kolumbianer sehr gut aus dem Spiel nehmen, das könnte ein Problem für England sein. Ich bin gespannt, was sich Englands Trainer Gareth Southgate einfallen lässt. Für ihn ist es eine Riesenherausforderung und eine Riesenchance, sich als taktischer Tüftler zu beweisen.

Was wird für England der Schlüssel zum Erfolg sein?

Das ist zwar leider eine ziemlich langweilige Antwort, aber alle Elemente werden für England wichtig sein. Besonders natürlich, wie Torjäger und WM-Topscorer Harry Kane ins Spiel kommt. Eine große Schwäche der Engländer ist die Anfälligkeit für Konter, das sollten sie gegen Kolumbien abstellen. Auch deshalb, weil England außer bei Standardsituationen in der Offensive bisher nicht sehr torgefährlich war, das ist ein bisschen beängstigend. Aber man hat in diesem WM-Turnier gesehen: Jede Mannschaft hat Schwächen, abgesehen von Brasilien vielleicht. Das wird England ermutigen - Kolumbien allerdings auch.

Was ist Kolumbiens größte Schwäche?

Ohne James Rodríguez zu spielen. Er ist ein richtiger Führungsspieler.

Ein Problem der Engländer war in den letzten Jahren die Torwartposition, auf peinliche Patzer war Verlass. Die neue Nr. 1 ist der 24-jährige Jordan Pickford, der mit zwei Länderspieleinsätzen zur WM gefahren ist. Kann er die Lösung für das englische Torwartdilemma sein?

Es geht nicht nur um eine Person, wir brauchen hier Stärke in der Tiefe. Die haben wir nicht und wir sollten stärker hinterfragen: Warum ist das so? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Aber ich finde, dass Jordan Pickford viel Potenzial hat, man sollte ihn nicht unterschätzen. Er ist nach der 0:1-Niederlage gegen Belgien ein bisschen in die Kritik geraten - meiner Meinung nach zu Unrecht, weil es einfach ein Weltklassetor war. Hinterher sieht es man den Treffer in so vielen verschiedenen Perspektiven und Zeitlupen, dass man denkt: Mensch, er hätte den doch halten können. Aber das war nicht so einfach. Er verdient ein bisschen Geduld. Ich glaube, ihm hilft, dass es in England keine riesigen Erwartungen an die Torhüterposition gibt. Er kann das wieder ändern, er ist ein sehr guter Torhüter. Aber er spielt noch nicht auf internationalem Topniveau.

Sie haben Kolumbiens Topstatistik gegen europäische Teams angesprochen. Andererseits hat England in fünf Duellen mit Kolumbien noch nie verloren. Wie abergläubisch sind die englischen Spieler und die Fans?

Die Fans sehr, die Spieler nicht. Das einzige Problem für die Spieler ist, wenn solche Statistiken zu einem Medienwirbel führen und sie es dann ständig zu hören bekommen. Aber Gareth Southgate ist ein sehr bodenständiger Typ, er kann damit umgehen. Ich glaube, dass er jedem in diesem Kader sehr gut tut. Er hat selbst Turniererfahrung und kann jede Situation sehr gut moderieren, das hat er auch im Umgang mit der englischen Presse gezeigt. Das ist ein Riesenvorteil als Englandtrainer, viele seiner Vorgänger haben dabei Fehler gemacht. Das hilft mit dem Druck bei so einem Turnier umzugehen.

Abschließend Ihr Tip: Wer gewinnt?

Kolumbien. 2:1.

Oha, "Football's going home"?

Ich bin ein großer Fan von Zweckpessimismus.

Mit Archie Rhind-Tutt sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

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