Fußball-WM 2018

Russlands surreale Torgala Putin bekommt doch ein WM-Spektakel

Nach dem Abpfiff war auf dem Platz und auf den Rängen kollektives Ausrasten angesagt.

Nach dem Abpfiff war auf dem Platz und auf den Rängen kollektives Ausrasten angesagt.

(Foto: imago/Action Plus)

In einem kuriosen Eröffnungsspiel fegt Russland die Furcht vor einer Heim-WM-Blamage vorerst vom Tisch. Gegen Saudi-Arabien feiert das nominell schlechteste Team des Turniers den zweithöchsten Startsieg der WM-Geschichte und verblüfft selbst Präsident Putin.

Aleksander Golovin blieb einfach stehen. Die Arme in Richtung Moskauer Abendhimmel gereckt, wartete Russlands Traumtorschütze zum finalen 5:0 vor dem saudi-arabischen Strafraum auf seine jubelnden Mitspieler. Die meisten der 78.012 Zuschauer im Luschniki-Stadion jubelten ebenfalls, aber nicht nur: Sie bebten, sie schrien, sie lagen sich in den Armen, sie sprangen, sie riefen euphorisiert "Rossija". Sie bewiesen an diesem frühen Donnerstagabend im Eröffnungsspiel der 21. Fußball-WM doch noch, dass das Finalstadion zum Hexenkessel taugt.

Von Russlands Präsident Wladimir Putin wurde von der VIP-Tribüne immerhin ein ungläubiges Lächeln überliefert, nachdem Golovin in der Nachspielzeit per direktem Freistoß den zweithöchsten Auftaktsieg der WM-Historie perfekt gemacht hatte (nur übertroffen vom 7:1 der Italiener gegen die USA bei der WM 1934). Nach dem Spiel klingelte der Präsident dann persönlich bei Russlands Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow durch, um seine Glückwünsche zu übermitteln. Der saß da, was ein Zufall, schon in der Pressekonferenz, musste kurz das Podium verlassen - und konnte der Weltpresse bei seiner Rückkehr präsidiale Grüße ausrichten. "Es war das Staatsoberhaupt. Er hat uns gebeten, so weiterzuspielen", berichtete Tschertschessow mit der Sachlichkeit eines russischen Verwaltungsbeamten, aber lachenden Augen.

Seinen ersten großen emotionalen WM-Ausbruch hatte der Coach da längst hinter sich. Aus dem früheren Torwart, der die Spiele gemeinhin in der Tradition des großen Fußball-Stoikers Valerij Lobanowski verfolgt, war es in der 71. Minute nach dem 3:0 von Artem Dzyuba herausgebrochen. Auf seinen emotionalen Sägenjubel mit der rechten Faust angesprochen, korrigierte Tschertschessow den Fragesteller freundlich. "Es war sogar mit beiden Fäusten, wenn ich mich recht erinnere."

Drei Joker- und zwei Traumtore inklusive

Tatsächlich hatte er erst eine Faust geballt, nachdem Dzyuba die letzten Zweifel am russischen Eröffnungssieg gegen ein defensiv desolates und offensiv inkonsequentes Saudi-Arabien weggeköpft hatte. Dann beide Fäuste, ehe schließlich der gesamte Tschertschessow samt Schnurrbart ein Freudenbeben durchlebt hatte. Diese 71. Minute war der Moment, wo sämtliche WM-Bedenken von Russland abzufallen schienen. Die, dass es nach zuvor sechs sieglosen Spielen selbst gegen den bestmöglichen Auftaktgegner - noch so ein Zufall - für einen wankenden Gastgeber eine Schmach geben könnte. Die, dass die erste WM in Russland bereits nach einem Spiel beendet sein könnte.

Salutierte vor dem Torschützen zum 4:0: Russlands Trainer Tschertschessow

Salutierte vor dem Torschützen zum 4:0: Russlands Trainer Tschertschessow

(Foto: AP)

Es war auch der Moment, wo aus vereinzelten Pfiffen für ein zerfahrenes Spiel wieder kollektiver Jubel wurde. Die Furcht, dass das Turnier seinen schönsten Moment aus russischer Sicht schon vor dem Anpfiff erlebt haben könnte, als Präsident Wladimir Putin sekundenlang den Jubel einsog und das Stadion wenig später die russische Nationalhymne schmetterte, hatte Jury Gazinski den Zuschauern mit seinem 1:0 per Kopf schon in der 12. Minute genommen. Super-Joker Denis Tscheryschew erhöhte noch vor der Pause auf 2:0 (42.), nach Dzyubas 3:0 besorgte er in der Nachspielzeit per Außenristtraumtor das 4:0, Tschertschessow setzte erneut zur Doppelsäge an. Golovin setzte dann den Schlusspunkt.

Statt einer Blamage feierte das laut Weltrangliste schlechteste Team dieses Turniers am Ende einen zumindest in dieser Deutlichkeit überraschenden Erfolg, drei Joker- und zwei Traumtore inklusive. Statt Kritik und Häme muss sich Nationaltrainer Tschertschessow in den kommenden Tagen damit herumschlagen, dass ganz Russland euphorisch über dieses 5:0 reden wird ("Besser als Anrufe zu erhalten, in denen man kritisiert wird"). Und mit Fragen wie der, ob seine Spieler jetzt mit Krönchen auf dem Kopf umherspazieren werden, die er ihnen abnehmen müsse ("Falls das so ist, gibt es in den nächsten Stadien genug freie Plätze für diese Spieler"). Oder der, ob das russische Team die ganze Welt vor der WM schlicht getäuscht hatte. Diese Bedenken konnte Tschertschessow immerhin zerstreuen: "So viele Leute zu veralbern", wäre selbst für seine Spieler zu schwierig gewesen.

"Russland hat nichts getan, was uns überrascht hat"

Nicht völlig zerstreuen konnte Russland indes die Zweifel, wie WM-tauglich das Team tatsächlich ist. Die Torgala war ebenso historisch wie surreal. So sah es Saudi-Arabiens entsetzter Nationalcoach Juan Antonio Pizzi, der von einem russischen Erdrutschsieg sprach, von einer beschämenden Situation für sein Team. Der aber auch betonte: "Russland hat nichts getan, was uns überrascht hat." Der WM-Gastgeber habe gar nicht viel machen müssen, um zu gewinnen. Und wie geht's weiter für die russischen Kantersieger, die um ihren verletzten Spielmacher Alan Dzagoev bangen? Im St. Petersburger Krestowski-Stadion spielen sie am Dienstag gegen Ägypten, zum Abschluss der Gruppe A ist am 25. Juni in Samara das Team aus Uruguay der Gegner.

Nun scheint es aber nicht mehr ausgeschlossen, dass zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion eine russische Mannschaft die Vorrunde übersteht. Und die Anhänger der Sbornaja müssen sich keine Sorgen machen, dass Tschertschessow jetzt durchdreht. Der Mann, der einst für die SG Dynamo Dresden in der Bundesliga im Tor stand, zeigte sich nach diesem erlösenden Erfolg sachlich wie meist. Denn er weiß, dass die weiteren Kontrahenten von einem ganz anderen Kaliber sind. Schließlich sei seine Mannschaft beim Confed Cup im vergangenen Jahr nach dem 2:0-Auftaktsieg gegen Neuseeland ohne einen weiteren Sieg ausgeschieden. Daher gelte: "Wir haben das erste Spiel gewonnen, aber das bringt uns nicht sehr weit."

Er benutzte einen Begriff aus der Musik, um das zu verdeutlichen: "Das ist wie ein Crescendo: die Saudis, Ägypten und dann Uruguay." Es wird also immer lauter, will meinen: schwieriger. Aber vielleicht steigert sich ja auch seine Mannschaft stetig, die sich an diesem etwas surrealen Abend nicht vorwerfen lassen musste, ihre Chance gegen einen wie erhofft sehr schwachen Gegner nicht genutzt zu haben. Tschertschessow wird jedenfalls dafür sorgen, dass nun niemand übermütig wird. Ob sich seine Spieler denn jetzt wie kleine Könige fühlen würden, wurde er gefragt. Niemand werde nun eine Krone tragen, versicherte er. "Aber ich weiß, was die Mannschaft kann. Wir haben uns sehr gut vorbereitet. Wichtig ist, dass die Begeisterung im ersten Spiel im Land da ist." Und der Präsident hatte am Ende doch sein WM-Spektakel bekommen.

Quelle: ntv.de

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