Die WM-Favoriten im Check Löw kontrolliert, die Spanier nerven
14.06.2018, 16:32 Uhr
Der deutsche Fußball-Bundestrainer Joachim Löw ordnet dem taktischen System und seiner Spielidee fast alles unter.
(Foto: dpa)
Bei Fußball-Weltmeisterschaften prägt oft ein bestimmter Fußballstil die Top-Teams. 2014 herrschte Stabilitätsdenken, 2006 war es die zunehmende Lust am neuen Strukturfußball. 1998 regierte die totale Offensive. 2018 ist alles anders.
Die bekannten Titelkandidaten unterschieden sich nicht nur in Nuancen, sie verfolgen teils grundverschiedene Philosophien. Man nehme nur einmal Brasilien und Spanien. Die Seleção aus Südamerika verdaut wahrscheinlich immer noch das 1:7 gegen Deutschland vor vier Jahren. Damals war Brasilien ein labiles Gebilde. David Luiz rannte wild umher und brachte die eigene Abwehr in Verlegenheit. Alle Offensivversuche sollten über den noch jungen Neymar laufen, der sich zu allem Überfluss verletzte. Der Rekordtitelträger war zum Scheitern verdammt. Nicht so in diesem Jahr.
Brasilien stellt wohl die beste Defensivmannschaft. Trainer Tite setzt auf Pressing und stringente Organisation gegen den Ball. Dafür vertraut er drei robusten Mittelfeldspielern im 4-3-3, die nicht unbedingt die klassisch-brasilianische Eleganz ausstrahlen, aber ihre Arbeit gewissenhaft und mit der notwendigen Kompromisslosigkeit verrichten. Sie sollen das Bollwerk bilden und im Mittelfeld ständig Bälle gewinnen. Die klangvolle Offensivabteilung um Neymar, Firmino, Coutinho und Co. ist sich nicht zu schade, die notwendige Laufarbeit fürs Angriffspressing zu leisten. Und anders als etwa beim WM-Titel 1994, den Brasilien vornehmlich mit langweiligem Fußball gewann, wird Tites Arbeit in der Heimat nicht verhasst. Brasilien hat die Zeichen der Zeit erkannt.
Das gilt sicherlich auch für Spanien, das sich gewiss seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst wird. Die Generation um Andrés Iniesta, David Silva, Sergio Busquets und Sergio Ramos reitet bald schon dem Sonnenuntergang entgegen. Ähnlich wie in Deutschland könnte eine Ära enden. Eine Ära des Ballbesitzes, eine Ära der hohen Spielkultur. Vielleicht fehlt Spanien die absolute Spitzenathletik anderer Teams, aber der Ball läuft immer noch ohne Stocken durch die eigenen Reihen.
Während Brasilien den Gegner bekämpft, entnervt Spanien ihn mit ständigen Positionsrochaden und sicherer Ballzirkulation. Der geschasste Cheftrainer Julen Lopetegui erinnerte in seiner taktischen Arbeit an große Könner ihres Fachs wie Josep Guardiola und Maurizio Sarri. Das erkannte auch Real Madrid, das den 51-Jährigen noch kurzerhand vor Turnierstart für die kommende Saison verpflichtete. Eigentlich hätte Lopetegui mit aufstrebenden Jungstars wie Marco Asensio und Saúl Ñíguez eine neue Top-Mannschaft nach der WM aufbauen können. Aber am Ende kam alles ganz anders und der Titelgewinn rückt trotz aller Klasse am Ball in weite Ferne.
Individualisten in der Favoritenrolle

Eine klangvolle Ansammlung an Individualisten hinter Stürmer Olivier Giroud.
(Foto: Constantin Eckner)
Was Frankreich, gemeinhin als Top-Favorit gehandelt, den Spaniern voraus hat, ist das athletische Niveau. Die Équipe befindet sich auf ihrem Zenit. Raphaël Varane, Paul Pogba, N'Golo Kanté und Antoine Griezmann können vor Kraft kaum laufen. Flankiert werden sie von solch brachialen Talenten wie Kylian Mbappé, Thomas Lemar und Ousmane Dembélé. Wer soll bei dieser Anhäufung an Ausnahmekickern die Franzosen eigentlich stoppen?
Vielleicht hält sich auch deshalb Nationalcoach Didier Deschamps mit taktischen Experimenten zurück und vertraut vor allem auf den Individualismus seiner Stars. Was ihm oftmals zum Erfolg verhilft, könnte sich aber in späteren Turnierrunden als Schwachstelle erweisen. Gerade gegen Brasilien, das im Halbfinale warten könnte, braucht es wohl mehr als einzelne Geistesblitze von einem Pogba oder Griezmann. Allerdings hat Real Madrid erst vor wenigen Wochen zum dritten Mal in Folge die Champions League gewonnen - und das auch weniger aufgrund des Spielsystems und vorrangig dank der Einzelkönner. Vielleicht entpuppt sich Frankreich als das Madrid dieser WM.
Keine Langeweile-Gefahr
Die deutsche Mannschaft verfolgt derweil einen anderen Ansatz. Joachim Löw ordnet dem taktischen System und seiner Spielidee fast alles unter. Ein prominentes Opfer dieses Dogmatismus wurde Leroy Sané. Löw weiß um die Stärken und Schwächen seines Teams. Er hat wohl den qualitativ besten Kader aller 32 Trainer zur Verfügung. In der Spitze fehlen jedoch ein paar Prozent. Deshalb ist Spielkontrolle für Deutschland überlebenswichtig. Mats Hummels, Toni Kroos und Mesut Özil müssen das Geschehen am Ball bestimmen und dem Gegner so wenig wie möglich Offensivaktionen erlauben. Damit würden sie auch die zuletzt anfällige eigene Defensive schützen. Allerdings ist Deutschland kein Vorreiter in Sachen Ballbesitz. Dafür ist der Ansatz der DFB-Elf zu extrem.
Auch andere Teams im erweiterten Favoritenkreis sind sich der Bedeutung des Ballbesitzes bewusst. Belgien hat mit Roberto Martínez einen ausgewiesenen Ballbesitz-Spezialisten. England versucht sich ebenso am strukturierten Angriffsspiel, was allerdings nicht immer erfolgsversprechend funktioniert. Kroatien hat wie auch Argentinien die notwendigen Mittelfeldspieler, um den Ball in den eigenen Reihen zu halten.
Die besten Mannschaften können sich einer gewissen Verantwortung im Ballbesitz sowieso nicht entziehen. Aber selbst unter Außenseitern wie Peru oder Saudi-Arabien ist die Lust gereift, mehr mit dem Ball zu machen und eben nicht nur zu mauern. Das allein verspricht schon hohe Qualität in den nächsten vier Wochen. Die unterschiedlichen Philosophien an der Spitze des Teilnehmerfeldes sind dazu noch das Salz in der Suppe. Beliebigkeit und Langeweile braucht keiner zu erwarten.
Quelle: ntv.de