Olympiasieg statt Perspektivlosigkeit Favela-Mädchen Silva verzaubert Brasilianer

Rafaela Silva hat die erste Goldmedaille für Brasilien gewonnen. Ihr Aufstieg in den Olymp gleicht einem modernen Märchen.

Rafaela Silva hat die erste Goldmedaille für Brasilien gewonnen. Ihr Aufstieg in den Olymp gleicht einem modernen Märchen.

(Foto: REUTERS)

Judoka Rafaela Silva erfüllt mit der ersten Goldmedaille für Brasilien nicht nur die Hoffnungen ihres Landes, sondern die der Menschen in den Armenvierteln. Ihren leidvollen Weg nach oben versteht sie als Botschaft.

Der blaue Judo-Anzug verschwand auf einmal in der Menge. Die junge Frau, die ihn trug, wurde gedrückt, geherzt, liebkost. Als sie dann auch noch in eine brasilianische Fahne gehüllt wurde, schritten die Sicherheitskräfte ein und zogen sie weg. Womöglich wäre sie aber lieber noch ein bisschen länger abgetaucht im Kreise ihrer Freunde, ihrer Familie, aber das sah das streng getaktete Ablaufprotokoll nicht vor. Die Judoka Rafaela Silva hat die erste Goldmedaille für Brasilien bei diesen Olympischen Sommerspielen gewonnen, das alleine ist schon ein Grund zu feiern. Aber damit ist die Geschichte noch lange nicht fertig erzählt. Der Aufstieg der 24-Jährigen in den Olymp gleicht einem modernen Märchen.

Silva ist nur gut sieben Kilometer vom olympischen Zentrum in Barra aufgewachsen, aber nicht in einem der schicken Häuser, die in den vergangenen Jahren im Westen Rio de Janeiros erbaut worden waren, sondern dort, wo sich Banden bekriegen, Drogendealer unterwegs sind und die Perspektivlosigkeit schon die Kinder in die Kriminalität treibt. Sie wohnte mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Raquel lange in der berüchtigten Favela Cidade de Deus (deutsch: "Stadt Gottes").

Unbändige Energie für den Sport kanalisiert

Früh lernte sie dort, sich mit Fäusten zu wehren. Aus Sorge um ihre Töchter zogen die Eltern irgendwann weg aus der "Stadt Gottes", auf die andere Seite des kleinen Flusses. Dort waren die Wohnverhältnisse nicht viel besser, aber es war sicherer. Außerdem kamen sie auf die Idee, Rafaela und Raquel in die Judo-Halle um die Ecke zu schicken. Besser, sie kämpfen dort als auf der Straße. Und der Trainer, der einst das brasilianische Judo-Team betreut hatte, erkannte bald großes Potenzial bei Rafaela. "Sie hatte viel Energie und viel überschüssige Kraft. Ich sah, dass sich ihre Energie für den Sport kanalisieren ließ", sagte Geraldo Bernardes der "New York Times."

Die Brasilianer feiern ihre erste Olympiasiegerin von Rio.

Die Brasilianer feiern ihre erste Olympiasiegerin von Rio.

(Foto: AP)

Die Halle Carioca 2 war voll besetzt an diesem Tag. Überall wurden brasilianische Fahnen geschwenkt. Wenn Silva die Halle betrat, um zu ihrem nächsten Kampf anzutreten, bereiteten ihr die Zuschauer einen frenetischen Empfang. Die Familie und Freunde von Silva saßen oder besser standen auf der Tribüne, aber auch Menschen, die Silva nur aus der Zeitung, aus dem Fernsehen kennen. Die 24-Jährige wusste, dass ganz Brasilien von ihr den Gewinn der Goldmedaillen erwartet, und sie selbst auch. In London vor vier Jahren war sie bereits als eine der Favoritinnen gestartet, aber dann schied sie in der ersten Runde aus, weil ihr ein technischer Fehler unterlaufen war. "Ich habe vier Jahre für Olympia trainiert und in einer Minute war alles vorbei", erinnert sich Silva an jenen Moment, der beinahe ihre Karriere beendet hätte, weil sie hinterher in den sozialen Netzwerken harsch kritisiert und rassistisch angefeindet worden war.

Wochenlang weinend auf der Couch

Zuerst wehrte sie sich, dann zog sie sich zurück. Wochenlang saß sie nur noch daheim vor dem Fernsehen und weinte. Schließlich gelang es Bernardes, Silva wieder für den Sport zu motivieren. Er vermittelte ihr einen Mentaltrainer und sie kehrte gestärkt auf die Matte zurück. Silva wurde 2013 Weltmeisterin und setzte danach alles daran, um es 2016 besser zu machen und sich den Medaillen-Traum vor der eigenen Haustüre zu erfüllen. Auf den rechten Oberarm hat sie sich die olympischen Ringe tätowieren lassen, darunter steht auf Portugiesisch: "Nur Gott weiß, wie sehr ich gelitten habe und was ich getan habe, um es hierher zu schaffen."

Nachdem Rafaela Silva im Finale der Klasse bis 57 Kilogramm die starke Mongolin Sumiyaa Dorsürengin besiegte hatte, sank sie auf die Knie und ließ anschließend an der Schulter ihres Trainers den Tränen freien Lauf. "Möge die Medaille den Kindern in der Cidade de Deus als Ansporn dienen", sagte sie etwas später, noch immer mit den Tränen kämpfend. "Von dort komme ich, und jetzt bin ich Weltmeisterin und Olympiasiegerin."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen