Hochgefühle auf dem Tennisfriedhof Kerber schürft Gold vor Geisterkulisse
13.08.2016, 08:44 Uhr
Freude bei Angelique Kerber: Eine Silbermedaille ist ihr sicher.
(Foto: REUTERS)
Es ist eh schon das Jahr von Angelique Kerber, bei Olympia könnte die Krönung folgen. Im Halbfinale lässt sie sich von nichts irritieren. Gold verhindern kann nur ein Tennisschock. Den produziert das Turnier in Rio allerdings in Serie.
Am Stadion-DJ lag es nicht, dass Angelique Kerber einen ihrer größten Tennistage in wenig mitreißender Atmosphäre erlebte. "Ladys night", "Gonna make you sweat (Everybody dance now)". Er hatte in petto, was es braucht für ausgelassene Stimmung. Die Zuschauer auf dem Centre Court in Rios Olympiapark waren an diesem Freitagabend derart musikalischer Animation auch gar nicht abgeneigt. Vielen zuckten Armen, Beine und Lippen, als die ersten Takte erklangen, schwenkten sie ihre Fähnchen.
Nicht so günstig für Kerber und ihre Halbfinal-Gegnerin Madison Keys aus USA war einfach: Nach der emotional überschwappenden Viertelfinalschlacht zwischen dem Brasilianer Thomaz Bellucci und Rafael Nadal aus Spanien waren nicht mehr genug Animierungswillige übriggeblieben, um zwei der besten Tennisspielerinnen in Rio mit angemessenem Spektakel würdigen zu können.
Wie die Topanwärterin auf Gold
Der Centre Court, Minuten zuvor noch ein Hexenkessel und Hort fast flehender "Silencio!"-Ansagen des Schiedsrichters, konnte sich vor Ruhe nicht mehr retten. Es war ein wenig wie auf einem Friedhof, als Kerber und Keys um den letzten freien Finalplatz spielten. Tröstlich für Deutschlands beste Tennisspielerin war trotz der Geisterkulisse mit zu zwei Dritteln leeren Rängen: Die "Deutschland, Deutschland"-Sprechchöre ihrer gewohnt engagierten Fans waren bestens zu vernehmen und ihren Traum von Gold in Rio de Janeiro musste Kerber ja, Obacht, keineswegs beerdigen.
Deshalb zwickte sich Kerber nach ihrem 6:3, 7:5-Erfolg angesichts der Gratulationen zur ersten olympischen Einzelmedaille einer deutschen Tennisspielerin seit Steffi Graf 1992 verbal selbst, "es steht noch ein Finale an." Es könnte ja noch ein größerer Tag folgen an diesem Samstag, nach dem es dann heißt: Olympiasiegerin 2016 - Angelique Kerber. Vom Titel trennt die 28-Jährige nur noch Überraschungs-Finalistin Monica Puig aus Puerto Rico. Die düpierte in ihrem Halbfinale die zweifache Wimbledon-Siegerin Petra Kvitova.
Auch wenn Kerber vor dem Finale artig vor der "großen Kämpferin" Puig warnte, die derzeit ihr bestes Tennis spiele: Ins Olympia-Endspiel geht die Nr. 34 der Weltrangliste als Außenseiterin. Eine Niederlage wäre der finale Tennisschock in einem seltsamen olympischen Turnier, bei dem der Centre Court bisweilen zum Favoriten-Friedhof wurde. Und in dem Kerber nach dem Aus von Kvitova die einzige Konstante geblieben ist. Sie spielt nicht immer überragend, aber stets konzentriert, nervenstark, druckvoll. Sie vertraut in ihre Stärke und ihr Selbstvertrauen, unabhängig von der Gegnerin. Sie tritt eben auf wie die Topanwärterin auf olympisches Gold, die sie als Australian-Open-Siegerin und Wimbledon-Finalistin seit dem sensationellen Achtelfinal-Aus von Überspielerin Serena Williams ist. Statt wie früher unter dem diesmal goldenen Erwartungsdruck zusammenzubrechen, "versuche ich jeden Moment auf dem Platz zu genießen, relaxed und fokussiert zu bleiben".
Am Stadion-DJ lag es wirklich nicht
Entspannt sah Kerber gegen Keys nicht immer aus. Sie brauchte ein paar Spiele, um sich gegen die druckvolle US-Amerikanerin zu entkrampfen, genaugenommen brauchte sie den ganzen ersten Satz. "Sie hat mich gezwungen mein bestes Tennis zu spielen", lobte Kerber ihre Gegnerin nach dem Spiel. Das allerdings war mehr freundlich als korrekt, in Summe war Kerbers Finaleinzug eine souveräne Vorstellung und Keys als Gegnerin mehr freundlich als herausfordernd. Der US-Amerikanerin fehlte bei aller Wucht die spielerische Raffinesse und in den entscheidenden Momenten die Nervenstärke, um Kerber wirklich zu fordern.
Hadern durfte Keys vor allem damit, von zehn Breakbällen gegen die Deutsche null genutzt zu haben. Kerber nutzte immerhin drei von elf. Das reichte zum vierten Spiel in Folge ohne Satzverlust, zum Finaleinzug, zur ersten deutschen Einzelmedaille der Tennisdamen seit 1992, zum Fazit: "Es fühlt sich so gut an." Nur in ihrem Auftaktmatch hatte sie gegen die Kolumbianerin Mariana Duque-Marino einen Satz abgegeben, aber da war sie auch noch in der olympischen Eingewöhnungsphase was den Baustellencharme im Athletendorf inklusive wackelnder Klodeckel betraf. Danach folgten Eugenie Bouchard, Samantha Stosur, Johanna Konta, jetzt Madison Keys.
Alle kein Problem für die 28-Jährige, die sich erst nach verwandeltem Matchball einen Kollaps erlaubte, vor Freude, an der Grundlinie. Zuvor hatte sie sich gegen Keys mit fünf vergebenen Matchbällen am Ende einfach einen eigenen Spannungs- und Stimmungsbogen gebastelt, das Publikum bastelte engagiert mit. Als Kerbers dank der Matchball-Ehrenrunden auf 1:29 Stunden Spielzeit ausgedehnter Halbfinalerfolg schließlich perfekt war, blitzte wieder die in Rio mutmaßlich technisch gestützte brasilianische Grundtugend durch, aus wenig (hier: Zuschauer) viel (hier: Stimmung) zu machen: Es wallte tosender Applaus durchs halbleere Stadion. Am Stadion-DJ lag es wirklich nicht.
Quelle: ntv.de