"Ich dachte, sie ist tot" Rio wird zur olympischen Radsport-Hölle
08.08.2016, 05:34 Uhr
Annemiek van Vleuten stürzte weniger Kilometer vor dem Ziel in Führung liegend und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.
(Foto: REUTERS)
"Brutal", "gefährlich", "Anarchie": Die Worte, die die Teilnehmer der Straßenradrennen von Rio für die Strecke finden, sind deutlich. Der Weltverband UCI steht unter Beschuss - auch weil eine Fahrerin auf der Intensivstation landet.
Am schönsten Tag ihrer Sportkarriere sagt die Niederländerin Anne van der Breggen: "Ich dachte, sie wäre tot." Sie, das ist ihre Landsfrau Annemiek van Vleuten. Für die 33-Jährige hätte das olympische Straßenrennen der Frauen auf dem Treppchen enden können, vielleicht sogar ganz oben. Dort, wo am Ende van der Breggen steht. Doch für van Vleuten endet es auf der Intensivstation.
Zehn Kilometer vor dem Ziel war ihr auf der steilen, kurvigen und oft feuchten Abfahrt vom Aussichtspunkt Vista Chinesa hinab in Führung liegend das Hinterrad ausgebrochen. Sie verlor die Kontrolle, stürzte über den Lenker, prallte mit dem Rücken auf die Bordsteinkante. So lag sie noch regungslos, als die Verfolgerinnen um van der Breggen die Stelle ihres Sturzes passierten.
So klingt ein olympischer Albtraum
"Wir haben Annemiek an der Straßenseite liegen sehen", sagte van der Breggen: "Es war schwierig von dort weiterzumachen." Aber dann hätten sie und die anderen Fahrerinnen sich gesagt: "Machen wir es für Annemiek."
Der niederländische Verband teilte nach dem Rennen mit, van Vleuten hätte einen Schock erlitten. Der Radsport-Weltverband UCI twitterte, van Vleuten habe "anscheinend kein ernsthaftes medizinisches Problem". Die Diagnose im Krankenhaus lautete dann: schwere Gehirnerschütterung und Knochenabsplitterungen an drei Wirbeln. So klingt ein olympischer Albtraum. Sie selbst twitterte aus dem Hospital und sagte, sie sei traurig, weil es das beste Rennen ihrer Karriere gewesen sei.
Van Vleutens Horrorsturz war der traurige Tiefpunkt zweier dramatisch verlaufener Wettbewerbe. Radsport in Rio de Janeiro, das war zum Start der olympischen Wettbewerbe mehr Straßenschlacht als Straßenrennen. Das Ziel direkt an der Copacabana: ein Traum. Der Weg dorthin: die Hölle. "Das ist die mit Abstand schwerste Olympia-Strecke, an die ich mich erinnern kann", hatte der deutsche Nationaltrainer Jan Schaffrath vor den Spielen gesagt. Er wurde an beiden Tagen auf dramatische Weise bestätigt.
"Es war Anarchie da draußen"
Der anspruchsvolle Kurs mit Kopfsteinpflasterpassagen, bis zu 15 Prozent steilen Anstiegen und enorm schwierigen Abfahrten brachte selbst Spitzenfahrer an ihre Grenzen - und bisweilen darüber hinaus. Beim Sieg des Belgiers Greg van Avermaet am Samstag waren Mitfavorit Vicenzo Nibali und der Kolumbianer Sergio Henao auf der derselben Abfahrt wie van Vleuten gestürzt.
"Es war Anarchie dort draußen", sagte der US-Amerikaner Brent Brookwalter, "ein sehr harter Tag." Der Ire Daniel Martin sprach vom "schwierigsten Tag, den er je auf dem Rad erlebt habe. Einfach nur brutal, brutal."
Der frühere britische Olympiasieger Chris Boardman übte in der BBC harte Kritik am Radsport-Weltverband: "Das war keine technisch anspruchsvolle Abfahrt, das war gefährlich", schimpfte Boardman mit Blick auf den Straßenzustand voller Kanten: "Ich bin wirklich wütend." Der UCI warf Boardman vor, die Gefahren für die Athleten fahrlässig in Kauf genommen zu haben: "Die Leute, die den Kurs entworfen haben, haben es gesehen - und es so gelassen." Eine der Leidtragenden: Annemiek van Vleuten.
Quelle: ntv.de