
Walijewa wird trainiert von "Schneekönigin" Tutberidse.
(Foto: dpa)
Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf im Einzel trotz eines positiven Dopingtests starten. Die Aufregung über diese Entscheidung ist groß. Dass die 15-Jährige wahrscheinlich wenig Schuld trifft, ist dagegen Konsens. Die Russin ist umgeben von einer verbissenen Trainerin und einem fragwürdigen Arzt.
Sie wird mit Leichtigkeit übers Eis schweben, scheinbar mühelos wahnsinnig komplizierte Vierfachsprünge zeigen und stehen und sie wird dabei lächeln - so, wie es von ihr erwartet wird. Wenn am morgigen Dienstag der Eiskunstlauf-Wettbewerb der Frauen startet, wird Kamila Walijewa dabei sein. Die Aufregung um die 15-Jährige wird mitschwingen, wenn sie um 14:52 Uhr MEZ das Eis für das Kurzprogramm betritt. Es wird die härteste Aufgabe der Russin sein, diese für 2 Minuten und 50 Sekunden zu den Klängen von Maurice Ravels Bolero in den Hintergrund rücken zu lassen.
Dabei ist der Druck beinahe unmenschlich groß. In Russland erwartet man von Walijewa Gold, so wie schon im Wettbewerb mit dem Team. Auch alle anderen erwarten Gold für das Eiskunstlauf-Wunderkind, Walijewa ist die große Favoritin. Eine Favoritin, deren Dasein als Eisprinzessin arg leidet. Ein positiver Dopingtest von den russischen Meisterschaften am 8. Dezember entzaubert das Märchen. Dass dieser Test erst nach dem Teamwettbewerb bekannt wurde, vergrößert die Diskussionen.
Walijewa darf im Einzel nach einem Entscheid des Internationalen Sportgerichtshofs CAS antreten - unter Vorbehalt. "Es ging allein um die Frage: Was passiert, wenn sie irgendwann nach den Olympischen Spielen in einem ordnungsgemäßen Verfahren freigesprochen wird", erklärt Investigativjournalist Hajo Seppelt in der ARD. "Wenn das passieren würde - und das muss man sich genau anschauen - dann könnte es bedeuten, hätte man sie jetzt suspendiert, dass man sie ungerechterweise um die Chance gebracht hätte, Olympiasiegerin zu werden."
Konkurrentinnen wird Medaillenzeremonie genommen
Eins ist schon jetzt klar: Sollte sie Edelmetall gewinnen, wird es keine Medaillenzeremonie geben. Das sei die Entscheidung der Exekutive, teilte das Internationale Olympische Komitee mit. Darüber, ob Walijewa gegen die Anti-Doping-Regel verstoßen hat, wird nämlich erst später entschieden. Es ist ein harter Schlag für die Konkurrentinnen, die so natürlich auch um ihre Ehrung gebracht werden, schließlich heißen mindestens zwei Medaillengewinnerinnen nicht Kamila Walijewa.
Der CAS begründete das Urteil mit der besonderen Schutzbedürftigkeit Walijewas. Die Athletin ist gerade einmal 15 Jahre jung. Eine Begründung, die der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA nicht passt, die WADA-Codes würden "keine spezifischen Ausnahmen in Bezug auf obligatorische vorläufige Suspendierungen für 'geschützte Personen', einschließlich Minderjährigen, zulassen". Trotzdem: Walijewa ist noch eine Teenagerin, die kaum als abgebrühte Betrügerin gelten kann. Im Rampenlicht auf dem Eis steht zwar sie, in den Fokus aber geraten ihre Trainerin, ein dopingerfahrener Arzt und das russische System.
Russland ist offiziell gesperrt
Das hat einen Ruf, einen überaus schlechten. Wegen des massiven Doping-Betrugs bei und nach den Olympischen Winterspielen 2014 im heimischen Sotschi ist Russland offiziell gesperrt, Athletinnen und Athleten aus Russland von internationalen Wettkämpfen wie den Spielen ausgeschlossen. Mehr als 200 von ihnen aber sind in Peking dabei - als Russisches Olympisches Komitee, nicht mit russischer Flagge, nicht mit russischer Nationalhymne. Sie dürfen auch in Peking um Medaillen kämpfen, müssen belegen können, nicht gedopt zu haben. Ein Fakt, der mit dem positiven Dopingtest Walijewas ad absurdum geführt wird.
Ist Russland genug bestraft worden, um einen nachhaltigen Kulturwandel im Sport herbeiführen zu wollen? Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) sagte aufgrund des Falls Walijewa, es werde deutlich, dass das Auslaufenlassen der Sperre gegen den russischen Sport zum Jahresende 2022 den Unterschieden zwischen den einzelnen Sportarten nicht ausreichend Rechnung trägt. Die Sperre Russlands läuft am 16. Dezember aus. Sie war Ende 2019 für vier Jahre von der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA ausgesprochen worden, wurde vom CAS aber auf zwei Jahre verkürzt. Teil der Begründung: Man wolle "die nächste Generation der russischen Athleten ermutigen, am sauberen Sport teilzunehmen." Ab 16. Dezember also dürfen Russinnen und Russen wieder offiziell als Russland starten. Weikert betonte: "Eine Einzelfallbetrachtung jeder Sportart wäre möglicherweise angemessener im Sinne eines konsequenten Anti-Doping-Kampfes." Denn was ist eigentlich mit den Trainerinnen und Betreuern, die in der Doping-Hochphase tätig waren?
Verurteilter Arzt praktiziert
Im Fall Walijewas zeigt sich die geringe Konsequenz der Sanktionen: Trainiert wird die 15-Jährige von Eteri Tutberidse, der Mannschaftsarzt ist Filipp Shvetskyi - der wegen Dopings gesperrt war. Laut ARD-Dopingredaktion hatte er den russischen Ruderern vor den Sommerspielen 2008 verbotene Infusionen gegeben. Seit 2010 ist er wieder als Arzt im Einsatz. Auch bei den russischen Eiskunstläuferinnen gab es bereits positive Dopingtests.
Shvetskyi testet zudem offenbar die Grauzonen der Anti-Doping-Regeln voll aus. Laut ARD gibt es ein Patent, nach dem der Arzt sich eine spezielle Methodik für die Verwendung des Edelgases Xenon patentieren lassen wollte - für den Einsatz bei Spitzensportlern. Diese Methode sei erlaubt, behaupten die Verfasser in ihrem Patentantrag. Sie erzeuge ein Gefühl des Fliegens, Freude und Entspannung, erhöhe auch den Testosterongehalt im Blut und die Konzentration. Das sind: Doping-Effekte. Die Methode wurde 2016 in Russland wissenschaftlich anerkannt. Gleichzeitig aber steht Xenon seit 2014 auf der Verbotsliste der WADA. Denn schon damals berichtete die ARD über den Einsatz von Xenon und den leistungssteigernden Effekten, was die WADA zum Verbot antrieb.
Sportlerinnen werden verheizt
Und was ist mit Tutberidse, Walijewas Trainerin? Sie trägt in Russland den Spitznamen "Schneekönigin". Weil sie ihre oft minderjährigen Schützlinge eiskalt antreibt, erfolgsbesessen ist. "Ich ziehe es vor, meinen Athleten die Wahrheit zu sagen, weil sie Schmeicheleien von anderen hören werden", erklärte Tutberidse im Dezember bei Channel One. Die "Wahrheit" ist bei Tutberidse wohl allzu häufig eine verbale Ohrfeige.
Ihre Sportlerinnen sollen so wenig wie möglich wiegen, heißt es. Selbst Wassertrinken sei verboten, berichtete eine Sportlerin. Pillendosen würden immer bereitstehen, angeblich Vitaminpräparate. Welche Mittel es seien, würde den Athletinnen allerdings nicht gesagt, berichtet die ARD.
Kamila Walijewa ist unglaublich jung, die Olympia-Premiere mit gerade einmal 15 Jahren aber nicht einmal etwas Besonderes bei den russischen Eiskunstläuferinnen. Sportlerinnen von Tutberidse werden hineingeschmissen in die harte Welt - werden aber auch verheizt. Die zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb bei Facebook: "Seit Jahren beschäftigt mich, warum bei den Olympischen Winterspielen 15- und 16-jährige russische Talente mit ihren faszinierenden Ausnahmeleistungen gewinnen und dann für immer die Eis-Weltbühne des Leistungssports verlassen. Oft gesundheitlich angeschlagen."
Sportlerinnen wie Julia Lipnizkaja. Die war 2014 Olympiasiegerin mit dem Team - mit 15 Jahren. Drei Jahre später machte sie ihre Magersucht bekannt, begab sich in medizinische Betreuung und beendete ihre Karriere mit gerade einmal 18 Jahren. Jewgenija Medwedewa gewann 2018 in Pyeongchang mit 18 Jahren zweimal Silber und hat inzwischen chronische Rückenschmerzen. Polina Zurskja gewann mit 14 Jahren die Olympischen Jugendspiele 2016, leidet nun an Antriebslosigkeit. Motivationsschwäche hat auch Daria Panenkowa, die mit 14 Jahren Junioren-Grand-Prix-Teilnehmerin 2017/18 war. Zahlreiche weitere junge Eiskunstläuferinnen in Russland mussten ihren Verletzungen oder ihrer Psyche Tribut zollen.
Sanktionen lösen nicht die Probleme
Wer darüber redet, muss mit Konsequenzen rechnen: 2019 veröffentlichte Anastasia Schabotowa bei Instagram: "Nimm viel Doping, dann wirst Du beständig Leistung bringen. So ist das." Über Tutberidses Trainingszentrum in Moskau sagte sie: "Natürlich machen die das." Schabotowa war damals 13 Jahre alt, sie bekam massiven Druck, nahm ihre Aussage zurück. In Russland außen vor, wechselte sie die Nation, in Peking geht sie für die Ukraine an den Start.
Allein der Fall Walijewa zeigt: Die "ziemlich harten Sanktionen", von denen das IOC in Bezug auf Russland spricht, lösen längst nicht alle Probleme. Eine 15-Jährige wird vermeintlich zum Opfer des Systems. Witt hatte Walijewa in Schutz genommen: "Wenn überhaupt, gehören die verantwortlichen Erwachsenen für immer für den Sport gesperrt!"" Denn zweifellos ist Walijewa ein Riesentalent mit einem enormen Können. Ihre Leistungen sind natürlich nicht nur auf Doping mit der verbotenen Substanz Trimetazidin zurückzuführen. Sicher ist noch nicht einmal, dass sie das verbotene Herzmittel tatsächlich genommen hat, Seppelt vermutet, dass die B-Probe bislang nicht geöffnet ist.
Walijewa muss ausbaden, dass Russland die Integrität des Sports jahrelang untergraben hat - und es womöglich immer noch tut. Mit Trainern wie Tutberidse und Ärzten wie Shvetskyi. Auf dem Eis aber muss Walijewa allein bestehen. Der Druck ist immens.
Quelle: ntv.de