Wirtschaft

Psychologe übers Abschalten "Wer im Job immer erreichbar ist, geht ein hohes Risiko ein"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Der Mensch braucht längere Regenerationsphasen wie Luft zum Atmen, sagt Arbeitspsychologe Alexander Häfner.

Der Mensch braucht längere Regenerationsphasen wie Luft zum Atmen, sagt Arbeitspsychologe Alexander Häfner.

(Foto: picture alliance / SVEN SIMON)

Wer nach Feierabend, am Wochenende oder gar im Urlaub stets für den Arbeitgeber zur Verfügung steht, gefährdet seine Gesundheit, warnt Arbeitspsychologe Alexander Häfner im Interview mit ntv.de - bis hin zum Burn-out. Wer meint, das macht mir nichts aus, täuscht sich. Wer denkt, es geht nicht anders, ebenso.

ntv.de: Australier haben seit dieser Woche das Recht, in ihrer Freizeit nicht für den Arbeitgeber erreichbar zu sein. In Deutschland gilt das grundsätzlich auch, viele Arbeitnehmer werden trotzdem von ihren Vorgesetzten kontaktiert, wenn sie sich eigentlich erholen sollten - und trauen sich nicht, solche Anfragen zu ignorieren. Tun sie sich damit selbst einen Gefallen oder nur dem Chef oder der Chefin?

Alexander Häfner: Die Forschung zeigt, dass es gut für die Schlafqualität ist, wenn am Abend abgeschaltet werden kann. Wenn ich abends emotional belastende Mails lese, schlafe ich wahrscheinlich schlecht. Deshalb sollte ich mich mit ordentlichem Abstand vor dem Einschlafen am besten nicht mit emotional aufwühlenden Themen beschäftigen.

Wäre es also auch für Arbeitgeber sinnvoller, ihre Beschäftigten nur während deren Arbeitszeit zu kontaktieren?

Aus meiner Sicht ist es gut, wenn intern Standards entwickelt werden, und in meiner Wahrnehmung wird die Erreichbarkeit in Betrieben durchaus diskutiert und geregelt. Es kann tatsächlich Notfälle geben, in denen es für beide Seiten sinnvoll ist, um eine "Katastrophe" abzuwenden. Denken wir an ein gravierendes IT-Problem, das am nächsten Arbeitstag zu massiven Problemen führen würde, wenn es nicht gelingt, es noch am Abend zu lösen. Trotz ausgefeilter Schicht-, Vertretungs- und Bereitschaftsdiensten sind Notfallsituationen denkbar, in denen es wichtig sein kann, Mitarbeitende in ihrer Freizeit zu kontaktieren. Das ist einfach die Realität. In echten Notfällen haben Mitarbeitende aus meiner Sicht auch großes Verständnis für die Situation. Bei pauschalen Regelungen ist also Vorsicht geboten. Aber auch aus Arbeitgeberperspektive ist es ungünstig, wenn der Standard ist, dass Mitarbeitende ständig in ihrer Freizeit kontaktiert werden. Das wirkt sich weder auf die Arbeitgeberattraktivität noch die Arbeitnehmerzufriedenheit und Gesundheit positiv aus.

Gerade wer bei der Chefin oder dem Chef einen schweren Stand hat oder zum Beispiel neu in einem Unternehmen ist, tut sich oft schwer, in der Freizeit nicht zu antworten. Wie kann ich mich abgrenzen, ohne berufliche Nachteile fürchten zu müssen?

Ich würde eine Erwartungsklärung empfehlen, gerade als neue Kollegin oder neuer Kollege, und zwar zu verschiedenen Themen. Spätestens vor meinem ersten Urlaub sollte ich zum Beispiel um eine gute Stellvertretungs-Lösung bitten, um mich gut zu erholen. Wer dabei Angebote für eine Lösung macht, kann Konflikte vermeiden. In den allermeisten Fällen haben auch die Führungskräfte ein großes Interesse an einer konstruktiven Lösung. Für die Arbeitgeberattraktivität ist es sehr relevant, dass die Mitarbeitenden eine starke Zufriedenheit entwickeln können. Falls ein Arbeitgeber trotzdem erwartet, dass Mitarbeitende im Urlaub jeden Tag erreichbar sind, würde ich darum bitten, dies auf absolute Notfälle zu beschränken, zum Beispiel einen drohenden Produktionsstillstand, den nur eine bestimmte Person verhindern kann. Wir sollten das als Aushandlungsprozess begreifen.

Aber wie realistisch ist das?

In meiner Beobachtung hat sich das geändert. Ich kenne auch Topmanager, die zum Beispiel im Urlaub eine halbe Stunde oder Stunde am Tag erreichbar sind - und nicht wie früher ständig online. Bei Mitarbeitenden ohne Führungsverantwortung passt eine ständige Erreichbarkeit, also auch mitten in der Nacht, erst recht nicht mehr in die Zeit. Mit Blick auf die Arbeitgeberattraktivität würde es mich wundern, wenn ein Unternehmen auf Dauer Erfolg damit hat. Dabei gibt es natürlich Unterschiede, aber es gibt auch große Unternehmen, die zum Beispiel geschäftliche Mails ab einer bestimmten Uhrzeit technisch abschalten. Andere haben die Regel, dass keiner erwarten darf, nach 17, 18 Uhr noch eine Antwort zu erhalten. Manche Betriebe beschäftigen sich seit Jahren mit dem Thema. Durch gute Organisation lässt sich das in den Griff bekommen: gute Vorbereitung von Urlauben, Stellvertretungen besprechen, absehbare Probleme im Vorfeld klären.

Alexander Häfner ist Vorstandsmitglied der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Alexander Häfner ist Vorstandsmitglied der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen.

(Foto: Nina Heller)

Lässt sich hier ein Generationenunterschied erkennen - lassen Jüngere ihre Vorgesetzten eher zappeln als ältere Beschäftigte?

Durch den Wandel am Arbeitsmarkt nehmen heute auch ältere Beschäftigte Erholung und Regenerationszeiten (noch) wichtiger. Infolge des Fachkräftemangels bringen Jüngere wie Ältere stärker ihre Interessen ein. Ich kann in der Praxis keinen Unterschied nach Alter feststellen.

Ist es auch Typsache, ob jemand immer erreichbar und trotzdem nicht gestresst ist?

Natürlich gibt es individuelle Unterschiede, aber die Wissenschaft zeigt, dass ständige Erreichbarkeit eine Gefährdung darstellt, die das Risiko für gesundheitliche Probleme erhöht. Ich warne davor, zu denken: Das macht mir nichts aus. Vor allem langfristig ist das Risiko negativer Effekte groß. Das ist wie mit dem Rauchen: Natürlich gibt es Menschen, die jeden Tag 20 Zigaretten rauchen und trotzdem 90 Jahre alt werden. Trotzdem ist Rauchen ein Gesundheitsrisiko, und das ist bei ständiger Erreichbarkeit nicht anders.

Welche Risiken sind das?

Das kann Richtung Burn-out gehen. Wenn zum Beispiel die Schlafqualität und Schlafdauer leidet und Erschöpfungszustände zunehmen. Dann kann ich an den Punkt kommen, dass ich schlimmstenfalls längere Zeit nicht mehr arbeiten kann und intensive medizinische und psychotherapeutische Begleitung brauche, um wieder arbeitsfähig zu werden. Da muss man schon aufpassen, auch bei einer sogenannten interessierten Selbstgefährdung.

Wie gefährden sich Arbeitnehmer selbst?

Um noch mehr zu schaffen und besonders leistungsstark zu erscheinen, lassen manche Arbeitnehmer die Pause weg - bis hin zum Toilettengang -, weiten ihre Arbeitszeiten am Abend aus und nutzen weitere Strategien, um ihre Arbeit irgendwie noch zu schaffen. Mittel- und langfristig können die Folgen gravierend sein. Es kann dauern, sich selbst einzugestehen, dass das nicht gut ist, beziehungsweise die Folgen zu merken. Die Konsequenz kann sogar eine Erwerbsunfähigkeit sein, deshalb würde ich dringend davon abraten, zu denken, das macht mir nichts aus - ich kann jeden Abend, am Wochenende und im Urlaub arbeiten. Wie Luft zum Atmen und etwas zu Trinken brauchen wir Menschen Pausen und längere Regenerationsphasen. Wenn jemand sagt, ich komme ohne Flüssigkeit zurecht, würden wir auch sagen, dass das auf Dauer nicht funktioniert.

Wenn ich mich trotzdem nicht in der Lage fühle, Anfragen von der Chefin oder dem Chef in meiner Freizeit zu ignorieren, wie gehe ich am besten damit um?

Ich würde im Sinne der Eigenverantwortung - und alle Beschäftigten haben ja eine Mitwirkungspflicht - empfehlen, ab 18, 19 Uhr keine Mails mehr zu lesen oder das Diensthandy sogar auszuschalten. Erwartet der Arbeitgeber, dass ich rund um die Uhr erreichbar bin, würde ich raten, das anzusprechen, und wenn sich nichts verändert, sich eine andere Stelle zu suchen. Auch wenn die Arbeitsmarktlage zurzeit eingetrübt ist, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass ich jetzt oder in absehbarer Zeit einen Job finde, wo das nicht erwartet wird. So eine gesundheitsgefährdende Situation sollte man verlassen.

Auch wenn ich sonst zufrieden bin in meinem Job?

Wenn jemand trotzdem bleiben will, weil vieles sehr gut ist, würde ich empfehlen, mit der Führungskraft intensiv und wiederholt ins Gespräch zu gehen. Ich würde sagen, dass es mich belastet, und einen Modus suchen, der für beide Seiten passt. Wenn die Führungskraft dazu nicht bereit ist, sind Mitarbeitervertretung, Personalabteilung oder in einigen Betrieben Mediatoren mögliche Anlaufstellen. Wenn auch das nicht funktioniert, würde ich diese Situation wirklich verlassen.

Selbst wenn Vorgesetzte das gar nicht erwarten, finden manche Arbeitnehmer es erholsamer, im Urlaub zwischendurch berufliche Nachrichten zu lesen, um danach nicht vor einem Berg ungelesener Mails und damit vielleicht ungelöster Probleme zu stehen. Haben sie recht?

Ich würde eher empfehlen, sich nach dem Urlaub einen halben oder ganzen Tag freizuhalten und in der ersten Arbeitswoche weitere Freiräume fürs Abarbeiten zu schaffen. Vor dem Urlaub ist wichtig, seine Vertretung gut zu regeln, damit Zeitkritisches gleich erledigt wird, während ich weg bin. Wenn sich ein "Berg" an Arbeit nach dem Urlaub trotzdem nicht vermeiden lässt, würde ich ein bestimmtes Zeitfenster definieren, in dem ich mich während des Urlaubs darum kümmere - und dieses mit den Mitreisenden wie Partner oder Familie abstimmen, um Konflikte zu vermeiden. Wenn möglich, würde ich das aber vermeiden, weil Studien zeigen, dass längere Auszeiten erholsamer sind.

Sie sind selbst angestellt - sind Sie immer erreichbar oder wann muss Ihr Arbeitgeber ohne direkte Antwort auskommen?

Der muss auch mal ohne auskommen, und das ist auch völlig okay. Ich habe ein gutes, stabiles Team und werde im Urlaub nur in echten Notfallsituationen kontaktiert. Das ist durchaus machbar und funktioniert seit 20 Jahren sehr gut. Auch nach Feierabend bin ich in der Regel nicht erreichbar, das ist in meinem Job nicht nötig beziehungsweise die absolute Ausnahme. Bundeskanzler und Verteidigungsminister sollten wirklich rund um die Uhr erreichbar sein - aber wer sonst muss das tatsächlich? Wenn ich das denke, handelt es sich vielleicht mehr um ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit als um eine betriebliche Notwendigkeit.

Sie leiten die Personalentwicklung der Industriekunden-Tochter der Würth-Gruppe. Sind in Ihrer Unternehmenskultur Nachrichten in der Freizeit tabu?

Bei uns ist gesunde Führung Teil der Führungskräfte-Ausbildung. Wir wollen, dass unsere Mitarbeitenden sich im Urlaub erholen können und auch nach Feierabend nicht mit Arbeitsthemen belastet werden. Unsere Führungskräfte sollen sich mit ihrem Team absprechen. Solche Themen sollten in der Ausbildung von Führungskräften generell noch stärker verankert werden.

Gelten dabei für alle Hierarchieebenen dieselben Regeln?

Es gibt sicher individuelle Unterschiede. Aber meine Wahrnehmung ist, dass auch auf höheren Ebenen Führungskräfte nicht durchgängig aktiv sein wollen, sondern in bestimmten Phasen vielleicht für besonders dringliche Angelegenheiten, aber eben nicht kontinuierlich. Und dass das auch akzeptiert ist.

Sind betrieblich vereinbarte Ausnahmen für Beschäftige ohne Führungsverantwortung, die es ja durchaus gibt, überhaupt erlaubt?

Wir haben ein klares Sonn- und Feiertags-Arbeitsverbot, mit Ausnahmen nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Das Arbeitszeitgesetz schreibt vor, dass man nicht mehr als zehn Stunden am Tag arbeiten darf und danach elf Stunden Ruhepause haben muss. Wer also am späten Abend noch etwas bearbeitet und am nächsten Morgen früh weiterarbeitet oder vorher schon zehn Stunden gearbeitet hat, verstößt gegen das Gesetz. Der Arbeitgeber darf nicht erwarten, dass seine Beschäftigten rund um die Uhr erreichbar sind.

Mit Alexander Häfner sprach Christina Lohner

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen