
Nächste Woche dürfte die EZB die Zinsen senken.
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Analysten und Investoren sind sich sicher: Ab Mitte September werden die Zinsen zügig sinken. Doch sobald sie die kritische Marke erreichen, dürften die Notenbanker ins Schwimmen kommen. Denn dann geht es um alles - und sie haben keinen Plan, wie es weitergeht.
Wenn sich die Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB) am kommenden Donnerstag zur ersten Zinssitzung nach der Sommerpause treffen, ist ziemlich klar, wohin die Reise geht. Volkswirte, Investoren und Analysten erwarten unisono, dass EZB-Chefin Christine Lagarde die im Juni eingeleitete Zinswende fortsetzen und den Leitzins in der Eurozone weiter senken wird. Nach fünf Jahren fallen damit deutlich die Finanzierungskosten in der Wirtschaft, Kredite für Häuslebauer, Firmen und Banken werden wieder spürbar billiger.
Und der Trend zeigt weiter nach unten: Auch für die Sitzungen im Oktober oder Dezember werden weitere Zinssenkungen erwartet. Schon Ende des Jahres dürfte der Leitzins damit wieder bei etwa drei Prozent liegen, und nicht mehr bei 4,25 Prozent wie noch im Juni. So haben es die Finanzmärkte weitestgehend eingepreist. Alles andere wäre eine dicke Überraschung.
Doch die große Frage ist, wie es danach weitergeht. Denn mit Erreichen der Drei-Prozent-Hürde stoßen die Zinsen im Euroraum auf eine kritische Schwelle. Ab hier hört der stille Konsens im EZB-Rat auf, dass die Zinsen nach zwei Jahren explodierender Inflation wieder runter müssen. Denn zu viel steht auf dem Spiel. Keiner der mächtigen Geld-Gouverneure will einen Fehler machen. Und so laufen sie Gefahr, sich in einem Richtungsstreit zu verkämpfen, der der Euro-Wirtschaft empfindlichen Schaden zufügen kann.
Die Zinsschallmauer im Blick
Der Weg bis zur Drei-Prozent-Hürde ist faktisch frei. Wie die Finanzagentur "Bloomberg" in dieser Woche unter Verweis auf anonyme Quellen berichtete, geht man in der EZB intern davon aus, dass der Leitzins von seinem aktuellen Niveau zwei bis drei Mal "ohne größere Reibungen" gesenkt werden kann. Danach ist alles möglich - die Notenbanker fahren auf Sicht.
Zwar sind sie sich weitgehend darin einig, dass auch im nächsten Jahr Raum für weitere Zinssenkungen besteht. Großen Streit gibt es allerdings darüber, wie sehr die steigenden Preise noch eine Gefahr darstellen - und ob und wie schnell die Zinsen deshalb weiter unter 3 Prozent fallen sollten, bis die Inflationsrate wieder das erklärte Ziel von 2 Prozent erreicht hat.
Die Tauben im EZB-Rat fürchten, dass die Wirtschaft ins Stottern geraten könnte, wenn die Notenbanker nicht energisch genug aufs Gas treten. Die Falken dagegen sorgen sich, dass eine zu lockere Geldpolitik die Preisexplosion wieder anheizen könnte, wegen der die Währungshüter die Zinsen ab 2022 überhaupt erst im Rekordtempo angehoben hatten.
"Je näher die Leitzinsen dem oberen Bereich der Schätzungen des neutralen Zinssatzes kommen - das heißt, je weniger sicher wir sind, wie restriktiv unsere Politik ist -, desto vorsichtiger sollten wir sein, um zu vermeiden, dass die Politik selbst zu einem Faktor wird, der die Disinflation bremst", brachte es EZB-Direktorin Isabel Schnabel kürzlich auf den Punkt. Soll heißen: Die EZB nähert sich einem gefährlichen Zeitpunkt, an dem sie von der Lösung zum Problem wird. Weil sie entweder zu zaghaft oder zu heftig Gas gibt. Und damit die Wirtschaft abwürgt oder überhitzt.
Vorwärts ohne Forward Guidance
Deshalb halten die Währungshüter bislang ihr Pulver trocken - und sich selbst alle Optionen offen. "Im EZB-Rat haben wir betont, dass wir uns nicht vorab festlegen, und abhängig von den Daten entscheiden", sagte Bundesbank-Chef Joachim Nagel in dieser Woche. "Wir sind auch weiterhin nicht mit dem Autopiloten unterwegs."
Die ersten Risse zwischen Tauben und Falken, die sich in dem Gremium ungefähr die Waage halten, treten zutage. Die 26 EZB-Ratsmitglieder sind gespalten. Der griechische Notenbankboss Yannis Stournaras etwa warnt: "Wir sollten gleichermaßen besorgt sein, sowohl was die Überschreitung als auch was die Unterschreitung des Inflationsziels betrifft." Sein portugiesischer Amtskollege Mario Centeno pflichtet ihm bei, man müsse die Inflationsrate mit dem geringstmöglichen Schaden für die Wirtschaft dämpfen. Bundesbank-Chef Nagel dagegen betont, dass "eine rechtzeitige Rückkehr zur Preisstabilität nicht als selbstverständlich angesehen werden" könne. "Daher müssen wir vorsichtig sein und dürfen die Leitzinsen nicht zu schnell senken".
Timing ist also alles. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich der richtige Zeitpunkt, an dem die Zinsen die Inflation nicht mehr dämpfen, sondern anheizen, nicht objektiv feststellen lässt. Er liegt in einer gewissen Bandbreite und bleibt damit ein Stück weit Ansichtssache. Und damit liefern die Notenbanker den Finanzmärkten derzeit das, was sie am meisten hassen: jede Menge Ungewissheit.
Normalerweise lassen die Währungshüter mehr oder weniger durchblicken, wohin die Reise geht. Auch wenn diese im Fachjargon "Forward Guidance" genannte Orientierung weder in Stein gemeißelt ist noch vor Gerichten eingeklagt werden kann, ist sie doch ein Wegweiser, der den Investoren Sicherheit gibt und an den Finanzmärkten Vertrauen schafft. Doch diesmal lassen sich die Währungshüter nicht in die Karten schauen. Jedenfalls nicht, bevor sie die Zins-Schallmauer von drei Prozent durchbrochen haben.
Quelle: ntv.de