Wirtschaft

Vermarktung einer Krise Warum der Uber-Effekt in der Pflegebranche verpufft

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Die klassische Altenpflege wird in Deutschland primär in Heimen oder von ambulanten Pflegediensten geleistet.

Die klassische Altenpflege wird in Deutschland primär in Heimen oder von ambulanten Pflegediensten geleistet.

(Foto: picture alliance / photothek)

Sie haben schon so manche Branche umgekrempelt - Internetplattformen, auf denen Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen. Uber hat das Taxigewerbe revolutioniert, Lieferando, wie Menschen Essen bestellen. An der Pflegebranche aber scheint sich die Plattformökonomie die Zähne auszubeißen.

Anfang der Woche großer Aufruhr: Die Zahl der Pflegebedürftigen sei im vergangenen Jahr "explosionsartig" gestiegen, meldete Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Die Zahlen beeindruckten viele, aber die alternde Gesellschaft, bei gleichzeitigem Fachkräftemangel - daran ist erst mal nichts neu. Deutschland steuert schon länger auf eine Schieflage zu.

Mehrere Plattformen wollen hierzulande die wachsenden Pflegelücken schließen - betreut.de, Careship oder Pflegix. Ihr Geschäftsmodell: Sie bringen Menschen, die einen bestimmten Dienst anbieten, zusammen mit Menschen, die diesen Dienst in Anspruch nehmen wollen. Dafür wird eine Gebühr fällig, die entweder die Pflegekräfte oder deren Kunden bezahlen müssen. Im Austausch erhalten diese vergleichsweise einfach Zugang zueinander. In anderen Branchen hat das Modell für Umwälzungen gesorgt, Uber hat das Taxigewerbe wachgerüttelt, Airbnb den Tourismus. Auch in der Pflege bietet es sich an, weil es mehr Freiraum zulässt als etwa eine Anstellung bei einem Pflegedienst. Viele Pflegekräfte sind auf solche Freiräume angewiesen, weil sie zum Beispiel Kinder versorgen, die Teizeitquote ist hier weit überdurchschnittlich.

Sozialwissenschaftlerin Franziska Baum hat mit vielen selbstständigen Pflegekräften gesprochen. Im Gespräch mit ntv.de sagt sie: "Was mich am meisten überrascht hat: Das waren vorwiegend Menschen, die ihr Leben lang schon Pflegearbeit geleistet haben, ob bezahlt oder unbezahlt." Diese überdurchschnittlich gut qualifizierten Pflegekräfte versuchten auf Plattformen, ihre Erfahrung zu vermarkten. Baum ist dort aber auch auf Menschen gestoßen, für die die Plattformen eher die Möglichkeit eines Zuverdienstes darstellen.

Plattformen sind für Selbstständige nur ein Vermarktungsweg

Viele selbstständige Pflegekräfte hätten Heim oder Pflegedienst oft den Rücken gekehrt, sagt Baum: "Das sind Menschen, die die Pflegehilfe verlassen, weil sie nicht die ganze Woche durchgetaktet werden wollen." Diese Pflegekräfte würden vor dem strengen Zeitplan und der schlechten Bezahlung in Heim oder Pflegedienst fliehen, sie wollten lieber zu ihren eigenen Bedingungen für Bedürftige sorgen. Dafür müssen sie sich selbst vermarkten. Baum sagt, die Plattformen seien allerdings meist nur ein Vermarktungsweg von vielen.

Die selbstständigen Pflegekräfte, mit denen sie gesprochen habe, nutzten anfangs mehrere Vermarktungskanäle: Zeitungsanzeigen, Zettel im Wartezimmer der Physiotherapie um die Ecke oder eben ein Plattformprofil, die Anmeldung koste ja erst einmal nichts. "Meistens existiert das Profil noch", so Baum, "aber die Leute nutzen das in der Regel nicht lange".

Gerade finanziell haben Plattformen nämlich einen gewichtigen Nachteil: Sie nehmen eine Vermittlungsgebühr, die oft beträchtlich ist. Careship behält 30 Prozent des Stundenlohns ein, betreut.de verlangt eine Nutzungsgebühr von maximal 35 Euro pro Monat. Gleichzeitig bauen die von der Plattform Vermittelten sehr intime Kontakte auf. Diese Beziehung erleichtert es, auf die Plattform zu verzichten und sich die Gebühr zu sparen. Der Kontakt ist da, die Vermittlungsarbeit der Plattform geschehen. Der technische, computergestützte Teil spiele ohnehin keine bemerkenswerte Rolle dabei, ob eine Pflegekraft und eine pflegebedürftige Person zusammenfänden, sagt Baum: "Das findet größtenteils in der direkten Interaktion statt."

Careship konzentriert sich auf Alltagshilfen

Ein weiteres Verkaufsargument der Plattformen: Sie nehmen den Pflegekräften die Last ab, die Abrechnung selbst zu erledigen. Die Menschen, mit denen Baum gesprochen hat, scheint das aber wenig beeindruckt zu haben. Diese Menschen hätten oft sehr viel Wissen und Erfahrung im Umgang mit der Pflegebürokratie. Sie kennen sich damit aus, welche Leistungen refinanziert, welche Entlastungsbeträge bei welchen Kostenträgern eingereicht werden können. Baum sagt: "Wenn Sie das geschafft haben, dann brauchen Sie niemanden mehr, der die Rechnung schreibt."

Womöglich auch deshalb hat sich Careship in einer Nische eingerichtet, die weniger qualifiziertes Personal anzieht: Die Berliner Firma vermittelt Alltagshilfen; Menschen, die für Bedürftige einkaufen gehen, ab und zu den Kühlschrank füllen oder ihn sauber machen. Im vergangenen Jahr waren es nach Unternehmensangaben 85.000 Arbeitsstunden, die über die Plattform zustande kamen. Careship konzentriert sich auch deshalb auf Alltagshilfen, weil selbstständige Pflegekräfte in manchen Bundesländern nicht mit den Pflegekassen abrechnen können - oder nur unter enormem bürokratischem Aufwand.

Neuerdings hat Careship allerdings einen Weg gefunden, doch noch an die Töpfe der Pflegeversicherung zu kommen: Ende vergangenen Jahres ging eine Tochterfirma in Berlin und Hamburg an den Start. Bei ihr sind mittlerweile rund hundert Alltagshilfen über Minijobs oder als Werkstudierende angestellt, sagt Careship-Chef Jonas Behrend im Gespräch mit ntv.de. 4500 Arbeitsstunden hätten sie bereits geleistet. Hintergrund: Seit September 2023 bezahlen die Kassen ab dem ersten Pflegegrad eine Alltagshilfe - allerdings nur, wenn die angestellt ist.

Vom Marktplatzbetreiber zum Arbeitgeber

Behrend geht davon aus, dass der Umsatz der Tochterfirma mit ihren Angestellten das Plattformgeschäft Ende dieses Jahres überflügeln wird. Dass der Teil des Geschäfts wichtiger wird, in dem Behrend vor allem Arbeitgeber ist und nicht Marktplatzbetreiber. "Was aber auch nicht schlimm ist", sagt Behrend. Man wolle die Selbstständigen nicht verlieren, werde die Plattform weiterbetreiben, über die auch die angestellten Alltagshilfen vermittelt werden, möglicherweise sogar noch Ehrenamtliche dazuholen.

Franziska Baum glaubt nicht, dass die Pflegeplattformen gekommen sind, um zu bleiben: "Die Leute, die ich gesprochen haben, sagen: Ich brauche keine Plattform." Die Pflegekräfte lehnten deren Geschäftsmodell ab, sähen die Ökonomisierung der Pflege generell kritisch, so Baum. Trotz alledem bieten Plattformen einen unkomplizierten, schnellen Zugang zum Pflegemarkt. Und Baum sagt selbst, es könne sehr schnell gehen, dass man Pflege benötige. Es sei sinnvoll, sich darauf vorzubereiten und umzuschauen, welche Anbieter es auf dem Markt gebe.

Dabei hält Baum die Selbstständigkeit für eine sinnvolle Alternative zu Pflegediensten: Sie ermöglichten Menschen, endlich ein wenig besser bezahlt zu werden, endlich so arbeiten zu können, wie die Pflegebedürftigen das in ihren Augen verdienen.

Quelle: ntv.de

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