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Für Corona nur noch Theorie Abschied von der Herdenimmunität

Die angestrebte Herdenimmunität hat sich als unmöglich erwiesen.

Die angestrebte Herdenimmunität hat sich als unmöglich erwiesen.

(Foto: imago images/Wolfgang Maria Weber)

Lange kursiert in der Corona-Pandemie der Begriff von der Herdenimmunität, die das Virus besiegen könne. Doch offenbar kann die Herdenimmunität im Fall von Sars-Cov-2 nicht das leisten, was sie in anderen Pandemien geschafft hat.

Der Direktor des US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID), Anthony Fauci, hat gemeinsam mit anderen Wisschaftlern im "Journal of Infectious Diseases" ein Papier veröffentlicht, in dem er das Konzept der klassischen Herdenimmunität für das Coronavirus für nicht anwendbar erklärt. Demnach ist in der Corona-Pandemie eine klassische Herdenimmunität nicht mehr möglich, aber auch nicht notwendig.

Bisher war davon ausgegangen worden, dass Herdenimmunität erreicht ist, wenn etwa zwei Drittel der Bevölkerung durch Impfung oder Erkrankung Antikörper gegen das Coronavirus bilden konnten. Das ist inzwischen beispielsweise in Deutschland der Fall, trotzdem sind die Ansteckungszahlen noch immer hoch.

Laut dem aktuellen RKI-Wochenbericht sind in Deutschland inzwischen circa 77 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal und 76 Prozent vollständig geimpft; 59 Prozent haben bereits eine Auffrischimpfung. Geht man von den vollständig Geimpften aus, sind das in Deutschland 63,2 Millionen Menschen. Hinzu kommen 16,9 Millionen Menschen, die nach einer Corona-Infektion genesen sind. Damit sind die zwei Drittel auf jeden Fall erreicht, selbst wenn unter den Genesenen Geimpfte sind.

Virus bleibt

Wo bleibt also die Herdenimmunität? Vermutlich ist sie im Fall des Coronavirus einfach unerreichbar, zumindest, wenn man damit die Erwartung verbindet, dass das Infektionsgeschehen komplett zum Erliegen kommt. Damit ordnet sich Sars-Cov-2 eher dort ein, wo auch schon andere Atemwegsviren wie das Grippevirus stehen, meinen Fauci und seine Kollegen. Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, hatte sich von dem Begriff der Herdenimmunität bereits im November 2021 verabschiedet. Damals sagte er, das Virus werde nicht mehr komplett verschwinden.

Herdenimmunität bedeutet im klassischen Sinn, dass ein großer Teil der Bevölkerung immun gegen einen Erreger ist, sodass die Infektionsketten schnell wieder unterbrochen werden. Dadurch sind dann auch nicht immune Menschen vor einer Infektion geschützt. Bei Masern oder Polio wurde genau das erreicht. Doch Fauci und seine Kollegen David Morens und Gregory Folkers vermuten, dass diese Erfahrungen nicht auf Sars-Cov-2 übertragbar sind.

Das liegt vor allem daran, dass das Virus mit immer neuen Mutationen in der Lage ist, einen bereits aufgebauten Immunschutz zu umgehen. Sars-Cov-2 sei anders als die Erreger von Polio und Masern nicht "phänotypisch stabil", schreiben die Wissenschaftler. Außerdem habe man schon bei Polio und den Masern die Erfahrung machen müssen, dass trotz einer Herdenimmunität Infektionsausbrüche möglich sind. Solange es einzelne Gruppen mit geringerem Impfschutz gebe, könne es immer wieder zu importierten Infektionen kommen. Gerade wurden beispielsweise in Israel acht Polio-Fälle bestätigt, obwohl die Polio-Impfung in dem Land seit den 1950er Jahren zu den Routineimpfungen bei Kindern gehört. Seit 1988 galt Israel als Polio-frei. Der Erreger wurde auch im Abwasser nachgewiesen, ohne dass bisher klar ist, woher er kam.

Vorhersagen eingetroffen

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler standen der Idee einer Herdenimmunität beim Coronavirus ohnehin skeptisch gegenüber. Bereits im März 2021 war im Wissenschaftsmagazin "Nature" ein Artikel erschienen, der die Gründe zusammenfasste, warum das Erreichen von Herdenimmunität vermutlich unmöglich ist.

Die Gründe waren unter anderem die Unklarheit, ob die entwickelten Impfstoffe auch weitgehend Ansteckungen verhindern können und wie lange der Impfschutz anhalten wird. Außerdem wurde die weltweit sehr unterschiedliche Einführung und Verteilung der Impfstoffe genannt und die Befürchtung, das Virus könne mutieren. Nicht zuletzt fürchteten die Modellierer und Epidemiologen, dass Menschen selbst mittelfristig nicht in der Lage sind, strenge Schutzmaßnahmen einzuhalten. Ein Jahr später sind viele dieser Annahmen genauso eingetreten und die Welt verabschiedet sich von der Idee, dass genug Menschen immun sein könnten, um Infektionsketten zu unterbrechen.

Fauci zufolge ist die Herdenimmunität in der Theorie ein nützliches Instrument, um den Verlauf von Epidemien zu beschreiben. Als praktisches Mittel für die Bekämpfung von Epidemien sei sie jedoch nicht ausreichend geeignet. Das liegt bei Sars-CoV-2 unter anderem daran, dass man auch asymptomatisch infiziert sein und das Virus weitergeben kann. Zudem bieten weder die Impfung noch die Infektion einen dauerhaften Schutz vor einer erneuten Infektion. Überdies wird davon ausgegangen, dass Sars-Cov-2 noch tierische Reservoirs hat, von denen aus es jederzeit wieder auf den Menschen übergehen kann. Das hatten zuletzt Studien aus Dänemark und den Niederlanden gezeigt.

Etwas mehr Normalität

Statt von Herdenimmunität sollte man eher den Begriff Hintergrundimmunität verwenden, so Fauci, Morens und Folkers. Nach mehr als zwei Jahren Viruszirkulation und mehr als einem Jahr, in dem geimpft werde, könnte ihrer Meinung nach inzwischen ein hoher Grad an Hintergrundimmunität in der Bevölkerung gegen Sars-CoV-2 entstanden sein. Zusammen mit den zur Verfügung stehenden antiviralen Medikamenten und monoklonalen Antikörpern müsste sie ausreichen, um trotz der weiteren Zirkulation der Viren zur Normalität zurückzukehren, schreiben die Wissenschaftler.

Damit könne es gelingen, das Virus unter Kontrolle zu bringen, ohne dafür die Störungen der Gesellschaft in Kauf zu nehmen, die in den letzten zwei Jahren durch Covid-19 verursacht wurden. "Wir brauchen das schwer fassbare Konzept der Herdenimmunität nicht mehr als erstrebenswertes Ziel", schreibt Fauci: "Die Kontrolle von Covid-19 ist bereits in greifbarer Nähe."

Die US-Experten ziehen einen unmittelbaren Vergleich zu Influenzaviren. Auch eine Grippe hinterlasse nur eine zeitlich begrenzte Immunität. Jedes Jahr müsse ein neuer Impfstoff konzipiert werden, weil sich die Viren ständig verändern. In größeren Abständen komme es durch diese Antigenshifts zur Entstehung neuer Viren, die dann eine schwere Pandemie auslösen, bevor sie in abgeschwächter Form als endemische Viren für saisonale Ausbrüche sorgen. Fauci verweist ausdrücklich auf das Virus der Spanischen Grippe von 1918. Dessen Nachfahren seien auch heute noch, wenn auch abgeschwächt, für saisonale Epidemien und manchmal auch für Pandemien verantwortlich.

In 80 Jahren sei es nicht gelungen, die Grippe durch Impfstoffe vollständig zu kontrollieren. Eine ähnliche Entwicklung sehen die US-Forscher für Sars-CoV-2 voraus. Das Virus so wie den Pockenerreger auszurotten, sei wahrscheinlich unmöglich. Sars-CoV-2 werde deshalb auch in Zukunft trotz der vorhandenen Impfstoffe jedes Niveau einer angenommenen Herdenimmunität überwinden und bei passenden Voraussetzungen neue Epidemien auslösen.

Die Stimmen der US-Experten reihen sich in mehrere Einschätzungen ein, bei denen Ärzte und Wissenschaftler zuletzt deutlich ausgesprochen hatten, dass es einen Sieg über das Virus wohl nicht geben werde. "Nachhaltiger Infektionsschutz, Herdenimmunität oder gar Viruseradikation" seien offenbar mit den zur Verfügung stehenden Impfstoffen nicht zu erreichen, hatte beispielsweise der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, Anfang Februar der "Bild"-Zeitung gesagt. Die gleiche Auffassung vertrat auch der Aerosolforscher und Physiker Gerhard Scheuch.

Neue Gemeinschaftsimmunität

Der britische Epidemiologe William Hanage warnte zuletzt im "Guardian" aber davor, im Zuge dieser Einschätzungen zunehmend auf Pandemiemaßnahmen zu verzichten. Er schlägt vor, mit Querschnittstests der Bevölkerung das Bewusstsein für die Situation aufrechtzuerhalten und gleichzeitig festzustellen, wie viele Viren und ob neue Mutationen kursieren. Dafür sollte auch die Abwasserüberwachung einbezogen werden. Beim Impfstatus könnte seiner Meinung nach "aktuell" wichtiger sein als "vollständig". Und so wie einst Typhus-Epidemien dazu geführt haben, dass das Trinkwasser gereinigt wird, könnte die Corona-Pandemie die Luftreinigung in den Fokus rücken.

Reinhold Förster, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, setzt darauf, dass die Bevölkerung durch wiederholte Kontakte mit dem Virus allmählich mehrere Schichten von Immunität aufbaut. Ähnlich hatte es zuvor auch schon der Berliner Virologe Christian Drosten beschrieben.

Doch was bedeutet der Abschied von der Herdenimmunität nun? Ungeimpfte können und sollten sich vor allem nicht auf den indirekten Schutz verlassen, wie ihn eine Herdenimmunität theoretisch verspricht. Sie müssen stärker auf individuelle Maßnahmen setzen, wie das Tragen der Maske in Innenräumen oder eine eigene Impfung, wenn möglich. Fauci und seine Kollegen betonen außerdem, dass die Forschung zur Entwicklung von Corona-Impfstoffen, die vor mehreren Coronaviren oder zumindest mehreren Sars-CoV-2-Varianten schützen könnten, von entscheidender Bedeutung bleibt. Damit es irgendwann vielleicht doch eine Gemeinschaftsimmunität gibt.

(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 05. April 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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