25 Jahre Viagra "Erektionsstörungen haben meist körperliche Ursachen"
26.03.2023, 13:19 Uhr Artikel anhören
Das Patent auf den Viagra-Wirkstoff Sildenafil ist im Juni 2013 abgelaufen.
(Foto: picture alliance / BSIP)
Ein Zufallsfund wird zum Bestseller, auch in Deutschland. Der Wirkstoff Sildenafil hat als Viagra das Sex-Leben von Millionen von Männern und Frauen verändert. Warum er dennoch kein Lifestyle-Produkt ist und die Kosten auch von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden sollten, erklärt Professor Jochen Heß vom Urologischen Klinikum der Universitätsmedizin Essen im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Professor Heß, in welchem Fall verschreiben Sie den Wirkstoff Sildenafil?
Jochen Heß: Ich verschreibe den PDE-5-Hemmer Sildenafil fast allen Männern, die zu mir mit einer Erektionsstörung kommen. Voraussetzung ist aber immer die sexuelle Erregung, die ja erst die gesamte Kaskade an Reaktionen im Körper hervorruft. Der Wirkstoff kann dann, ganz unabhängig von der Ursache der Erektionsstörung helfen, eine Erektion zu verbessern. Man kann Sildenafil also auch gut einsetzen bei den Männern, die wegen psychischer Beschwerden Erektionsstörungen haben.
Welche Gründe gibt es denn für Erektionsstörungen?
Bei rund 90 Prozent der Männer sind es körperliche Ursachen, die zu Erektionsstörungen führen. Am häufigsten sind diese gefäßbedingt oder kardiovaskulär. Auch Diabetes und ein Testosteronmangel können Gründe für eine Erektionsstörung sein. Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal nach diesen Ursachen zu schauen und zu überlegen, ob man diese kausal behandeln sollte. Wenn allerdings die Probleme bereits über einen längeren Zeitraum bestehen, dann können auch psychische Probleme als Folge entstehen. Männer mit Erektionsstörungen sollten deshalb mit ihrem Problem schnell zum Arzt gehen, denn wir können in den meisten Fällen wirklich helfen.
Ist aus ihrer Sicht Viagra ein Segen?
Auf jeden Fall ist Viagra beziehungsweise der Wirkstoff Sildenafil ein Segen. Tatsächlich hat er Bewegung in die Therapie gebracht und kann mit Recht als echter Gamechanger bezeichnet werden. Auch Werbekampagnen, wie zum Beispiel die mit dem Weltfußballer Pelé, haben geholfen, Erektionsstörungen etwas aus dem Schatten zu holen. Mit dem Thema könnte zwar noch offener umgegangen werden, aber es ist durch die Einführung von Viagra schon deutlich besser geworden als vor 30 Jahren.
Vor einigen Jahren sprachen viele Experten und Expertinnen vom "Viagra-Effekt", also von einer gewissen Enttabuisierung von Erektionsstörungen. Ist der tatsächlich eingetreten?
In Zahlen lässt sich das nicht erfassen. Erektionsstörungen sind bis heute ein Tabu-Thema. Viele Männer reden noch nicht einmal mit dem besten Freund, geschweige denn mit der Partnerin oder dem Partner darüber. Dabei sind Erektionsstörungen echte Belastungen für Beziehungen, gerade, wenn nicht offen damit umgegangen wird. Das kann dann zu Streit, Brüchen oder sogar zu Trennungen führen. Das ist völlig unnötig, denn wir können ja auf verschiedene Art und Weise helfen. Gut wäre deshalb, dass das Thema auch in der Gesellschaft lockerer angegangen wird. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Was raten Sie denen, die sich das Potenzmittel im Netz bestellen und in Eigenregie einnehmen?
Davor kann ich nur warnen. Erstens weiß man nicht genau, welche Anbieter im Netz tatsächlich dahinterstehen. Sind das wirklich seriöse Apotheken? Oder sind das Leute, die das aus Profitgründen vertreiben? Man weiß dann man nicht, ob der Wirkstoff wirklich enthalten ist oder nicht. Unklar ist auch, in welcher Dosis. Im schlimmsten Fall ist ein schädigender Wirkstoff enthalten.
Im vergangenen Jahr wurde die Verschreibungspflicht in Deutschland für den Wirkstoff überprüft und aufrechterhalten. War das aus ihrer Sicht die richtige Entscheidung?
Ich glaube, dass es Sinn macht, dass der Wirkstoff auch weiterhin verschreibungspflichtig bleibt. Männer mit Erektionsstörungen sollten vor Einnahme des Präparates auf jeden Fall von einem Arzt oder einer Ärztin befragt und untersucht werden, denn es gibt bestimmte Krankheitsbilder oder Medikamente, die sich nicht mit der Einnahme von Sildenafil oder anderen PDE-5-Hemmern vereinbaren lassen. Der Klassiker für solche Kontraindikationen sind nitratbasierte Blutdrucksenker. Bei gleichzeitiger Einnahme mit Sildenafil kann es dazu kommen, dass der Blutdruck so sehr abgesenkt wird, dass man in einen Schockzustand gerät und im schlimmsten Fall daran verstirbt. Es muss also vorher von einem Arzt oder einer Ärztin geklärt werden, wie bei jedem anderen Medikament auch, ob diese Therapie sinnvoll ist und ob es möglicherweise Kontraindikationen gibt. Dann muss man auf Alternativen ausweichen.
Gibt es noch andere Faktoren, die die Therapie mit Sildenafil ausschließen?
Ganz wichtig ist, im Vorfeld einmal zu klären, ob der Mann, der das Medikament bekommen soll, mit seiner körperlichen Konstitution überhaupt in der Lage ist, eine Situation mit Erektion, Sex und Orgasmus durchzustehen. Denn beim Sex kommt es zu einer Belastung des Kreislaufs, bei der der Blutdruck durchaus auf 180, der Puls auf 120 bis 130 hochgehen können. Wenn Männer so eine Kreislaufsituation gar nicht verkraften können, dann wäre es natürlich fatal, sie mit Medikamenten in diese Lage zu versetzen.
Sildenafil wird oft auch als Lifestyle-Medikament bezeichnet. Zu Recht?
Wir hatten dazu mal 150 Männer, die bei uns in der Sprechstunde waren, retrospektiv befragt, ob sie Erektionsstörungen als Lifestyle-Problem sehen. Für die Mehrheit war es ein medizinisches Problem und das sehe ich auch so. Sildenafil ist dementsprechend in meinen Augen kein Lifestyle-Mittel, denn Erektionsstörungen sind ja ein echtes medizinisches Problem. Aus diesem Grund sollten die Medikamente auch von den Kassen übernommen werden. Viele Männer leiden beispielsweise nach einer Prostataoperation darunter. Ich kann nicht verstehen, warum die Krankenkassen nicht in die Leistungspflicht genommen werden, obwohl sie die Vakuumpumpe und die Penisprothese durchaus bezahlen.
Viagra beziehungsweise der Wirkstoff Sildenafil scheint auch ein gewisses Suchtpotenzial zu haben. Können Sie das bestätigen?
Was wir wissen ist, dass es sich dabei nicht um eine körperliche Sucht oder eine Form von Abhängigkeit handelt, wie wir sie beispielsweise von Nikotin oder opioidhaltigen Medikamenten kennen. Es ist allerdings möglich, dass es zu einer Art psychischer Abhängigkeit kommen kann. Wenn man beispielsweise der Meinung ist, man könne nur Sexualität richtig ausleben, wenn man vorher diese Pille genommen hat oder eine überzogene Vorstellung von Sexualität hat, dann kann das durchaus zu einer angstbedingten Abhängigkeit kommen. In vielen Fällen schwingt ein Leistungsdenken mit, mit dem man sich möglicherweise selbst unter Druck setzt oder unter Druck gesetzt wird. Dass Sex immer perfekt sein und lange dauern muss, sind solche überzogenen Vorstellungen, die Angst machen können.
Haben Sie eine Idee, wie man das Thema Erektionsstörungen aus der Tabu-Zone holen könnte?
Ich glaube, dass Aufklärung der Schlüssel zur Überwindung des Tabu-Themas ist. Auf einigen Krankenwagen steht beispielsweise groß darauf: "Schlaganfall - ein Notfall. Wählen Sie die 112. Wenn man nun auf sämtliche Rettungswagen den Slogan "Erektionsstörungen - ein Problem, bei dem geholfen werden kann" drauf schreiben würde, dann könnte man so Tabus und Grenzen abbauen, glaube ich. Wichtig ist außerdem, dass Männer offen mit ihren Partnerinnen oder ihren Partnern über Erektionsstörungen sprechen. Dann kann man gemeinsam an dem Problem arbeiten. In meiner Sprechstunde tauchen immer wieder Paare auf, denn das Problem hat schließlich auch Auswirkungen auf das Sex-Leben der Partnerin oder des Partners. Durch einen offenen Umgang mit Erektionsproblemen können sich beispielsweise Schuldgefühle und Spannungen in einer Beziehung auch wieder lösen.
Mit Jochen Heß sprach Jana Zeh.
Quelle: ntv.de