EU pocht auf Dublin-Regeln Rückkehr zu einer unzeitgemäßen Ordnung
08.12.2016, 15:34 Uhr
Viele Flüchtlinge, die es auf das griechische Festland geschafft hatten, zogen nach Deutschland weiter - und durften bleiben.
(Foto: REUTERS)
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise kollabierte das europäische Asylsystem. Jetzt will die EU-Kommission die sogenannten Dublin-Regeln wieder konsequenter anwenden. Das wirft viele Fragen auf.
Worum geht es bei der Rückkehr zu den Dublin-Regeln?
Die sogenannte Dublin-III-Verordnung sieht vor: Kommt ein Flüchtlinge in die EU, ist das Mitgliedsland für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig, das er zuerst betreten hat. Reist der Flüchtling trotzdem weiter, darf er in das EU-Land zurückgeschickt werden, das er als erstes betreten hat.
Da fast alle Flüchtlinge in den vergangen Jahren über das Mittelmeer gekommen sind, waren die ersten EU-Staaten, die sie betreten haben, in der Regel Italien und Griechenland. Von einer gerechten Lastenteilung konnte keine Rede sein. Insbesondere Griechenland war überfordert. So sehr, dass ein anständiges Asylverfahren dort nicht mehr möglich war. Das galt allerdings auch schon lange vor der großen Flüchtlingskrise des vergangenen Jahres. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) untersagte wegen der prekären Lage bereits im Jahr 2011 Dublin-Rückführungen nach Griechenland.
Die EU-Kommission will diese nun behutsam wieder einführen. Vom 15. März an sollen Flüchtlinge wieder zurückgeschickt werden dürfen – allerdings nicht rückwirkend. Wer vor diesem Stichtag über Griechenland in die EU gekommen ist, muss nicht mit einer Abschiebung rechnen. Ausgenommen sind auch minderjährige Flüchtlinge.
Ist das Dublin-System nicht auch unabhängig von Griechenland zusammengebrochen?
Jein: In der Wahrnehmung vieler EU-Bürger stellte vor allem die "Grenzöffnung" Angela Merkels für die Flüchtlinge, die im September 2015 auf dem Budapester Bahnhof Keleti ausharrten, den System-Kollaps dar. Tatsächlich war die Aufnahme dieser Menschen aber durch das europäische Asylsystem gedeckt. Das schreibt ein sogenanntes Selbsteintrittsrecht vor. Will ein Staat Flüchtlinge aus humanitären Gründen aufnehmen, auch wenn er eigentlich nicht zuständig ist, so darf er das.
Zugleich lässt sich aber auch so argumentieren, dass die Dublin-Regeln spätestens seit dem Sommer 2015 faktisch nicht mehr im Sinne ihrer Intention wirksam sind. Wäre dies der Fall, würde sich Deutschland schließlich nicht um die langfristige Versorgung und Integration von Hundertausenden Flüchtlingen kümmern. Fast alle Neuankömmlinge sind ja über andere EU-Staaten ins Land gekommen. Einerseits sahen die Behörden oft davon ab, neben den ohnehin besonders belasteten Staaten Griechenland, Ungarn und Italien weitere Bürden aufzulasten. Die EU-Staaten entschieden vielmehr per Mehrheitsbeschluss, Italien und Griechenland zusätzlich 160.000 Flüchtlinge im Rahmen eines neu eingeführten Verteilschlüssels abzunehmen.
Diverse andere Staaten verweigerten zudem die Aufnahme von Dublin-Überstellungen auch dann, wenn sie beantragt wurden. Bulgarien etwa lehnte 2015 rund jedes zweite sogenannte Übernahmeersuchen ab. Flüchtlinge konnten in diesen Fällen nicht gemäß der Dublin-Regeln zurückgeschickt werden.
Ist Griechenland stabil genug für eine Rückkehr zu Dublin?
Daran hat selbst die EU-Kommission ihre Zweifel. In einer Mitteilung heißt es: "So bleibe der Migrationsdruck hoch, und bestimmte Unzulänglichkeiten im griechischen Asylsystem bestehen weiterhin, unter anderem was die Aufnahmebedingungen, die Behandlung schutzbedürftiger Antragsteller und die Geschwindigkeit anbelangt, mit der Asylanträge registriert und geprüft werden." Die EU-Kommission hebt deshalb die "behutsame" Rückkehr zu den Regeln so ausdrücklich hervor und verweist auf "übermenschliche" Anstrengungen, die das Land in den vergangenen Monaten unternommen habe, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Zudem funktioniere nun auch die Registrierung von Neuankömmlingen. Die EU hatte deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland geführt, für dessen Einstellung sie sich jetzt ausgesprochen hat.
Ob das reicht, ist dennoch ungewiss. Zunächst müssen die Mitgliedsstaaten der Empfehlung der Kommission zustimmen. Und der Gegendruck ist hoch. "Die Bundesregierung muss sich entgegen des Vorschlags der Kommission klar gegen Dublin-Rücküberstellungen von Menschen in diese prekäre Situation aussprechen", sagte etwa Luise Amtsberg, Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Grünen im Bundestag. Auch ein weiterer Richterspruch des EGMR ist nicht ausgeschlossen. Voraussetzung ist eine Klage, wenn ein Flüchtling wieder nach Griechenland geschickt und dort nicht menschenwürdig und rechtskonform behandelt wurde.
Was ist mit der gerechten Lastenteilung?
Die Frage ist durchaus gerechtfertigt, denn der Plan klingt zunächst paradox: Einerseits will die EU Griechenland im Rahmen des Verteilschlüssels entlasten. Bisher wurden Athen und Rom zusammen nach Angaben der EU-Kommission aber erst 8000 der geplanten 160.000 Flüchtlinge abgenommen. Trotzdem soll es nun ausgerechnet nach Griechenland wieder Dublin-Überstellungen geben.
Der EU-Kommission geht es womöglich eher um ein Signal als um die tatsächlichen Rückführungen. Flüchtlingen, die mit dem Gedanken spielen, in die EU zu kommen, soll klar sein: Es gibt für sie keine Aussicht auf ein Leben in beliebten Zielländern wie Deutschland oder den skandinavischen Staaten. So soll die Zahl der Neuankömmlinge in Griechenland, die durch den EU-Türkei-Deal ohnehin schon extrem gesunken ist, weiter abnehmen.
Sind die Dublin-Regeln überhaupt noch zeitgemäß?
Der Ursprung der Verordnung geht auf das Jahr 1990 zurück. Sie stammt also aus einer Zeit vor der EU-Osterweiterung. Damals hatte man noch glauben können, dass sie eine einigermaßen gerechte Lastenverteilung ermöglicht. Heute wissen das alle besser. Auch die EU-Kommission. Die hat längst einen Vorschlag für eine Novelle vorgelegt. Das Dublin-IV-System soll durch einen eingebauten "Fairness-Mechanismus" für eine gerechte Verteilung sorgen. Angesichts der ernüchternden Erfahrungen mit dem existierenden Verteilschlüssel sieht das geplante Abkommen für widerspenstige Staaten hohe Strafzahlungen vor.
Im Bundesinnenministerium hofft man darauf, dass es noch in diesem Jahr zu einer grundsätzlichen politischen Einigung auf die Reform kommt. An diesem Freitag steht ein Gipfel der Innenminister in Brüssel an. Eine Runde der Staats- und Regierungschefs ist für Ende nächster Woche geplant. Selbst wenn es zu einer Einigung kommen sollte, dürfte aber ein langwieriger Verhandlungsprozess über die Details folgen. Um die Solidarität in der EU ist es dieser Tage nicht gut bestellt.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und diverse Flüchtlingsräte warnen zudem davor, dass die geplante Dublin-Novelle die Lage von Flüchtlingen verschärfen würde. Ein Vorwurf lautet: Das Selbsteintrittsrecht soll es künftig nicht mehr geben.
Quelle: ntv.de