
Lesen kann man eigentlich überall im Urlaub. Und auch mehr als die Landkarte.
(Foto: imago images / Panthermedia)
Lesen im Sommer ist so ein herrliches Vergnügen. Endlich Zeit, endlich die Möglichkeit sich in eine andere Welt zu begeben, physisch und in Gedanken. In alter Tradition stellen wir Ihnen hier ein paar Bücher vor, die die Redaktion gern gelesen hat oder einfach interessant fand.
Stephanie von Hayek: "Als die Tage ihr Licht verloren"
Es gibt Dinge, die man sich nicht vorstellen kann: "Reichsleiter B. und Dr. med. B. sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann." Was dieser Frei-Brief von Adolf Hitler am 1. September 1939 bedeutete, kann sich jeder selbst erklären: Es war eine Erlaubnis, Gott zu spielen. Es war eine Bevollmächtigung, Menschen quasi einschläfern zu lassen, wie man es mit kranken Tieren macht. Was dabei "krank" bedeutete, das lag im Ermessen eines der Ärzte, die durch diesen Brief bemächtigt wurden.
Stephanie von Hayeks erster Roman "Als die Tage ihr Licht verloren" erzählt von den Schwestern Linda und Gitte, Töchter einer liberalen gutbürgerlichen Familie, die eigentlich nur ihr Leben leben und genießen wollten. Als Lindas Mann nicht aus dem Krieg zurückkommt, verfällt diese in eine tiefe Melancholie, sie kommt in eine Heilanstalt. Dass sie dort nicht sicher ist, macht der obige Brief Hitlers deutlich, denn aufgrund dieser Aussagen wäre ihr Leben – in einer Heilanstalt - nicht mehr lebenswert. Doch Lindas Kampfgeist erwacht, zum Glück, gerade noch rechtzeitig. Einfühlsam und gründlich recherchiert erzählt von Hayek die Geschichte der beiden Schwestern und verbindet Fiktion und Realität aufs Meisterlichste. (Pendo Verlag) (soe)
Stephanie Land - "Maid"
Das ist ein Buch, von dem die Macher bei Netflix überzeugt sind, dass da – noch - mehr zu holen ist: Der New York Times-Bestseller wird zur Serie, und aus der ehemals obdachlosen, alleinerziehenden Mutter Stephanie Land wird eine Journalistin und Autorin. Der amerikanische Traum? Nicht ganz. Eine kurze Geschichte von Ruhm und Glück? Bei weitem nicht, es ist eine lange Geschichte. Es ist die Geschichte einer Frau, die es geschafft hat, sich aus ihrer krassen Notlage zu befreien, die auf der Straße landete und trotz vieler Rückschläge eine Zukunft für sich und ihr Kind aufbauen konnte.
"Meine Tochter machte die ersten Schritte im Obdachlosenheim", schreibt Land, und an anderer Stelle: "Wir haben es geschafft." Dazwischen passiert so viel, dass es kaum in ein einziges Leben hineinzupassen scheint. Dafür aber in ein Buch, das davon erzählt, dass ein "Happy Meal" manchmal die ganze Welt für ein Kind bedeuten kann und Frauen es schaffen können, sich aus toxischen Beziehungen zu befreien. (Fischer) (soe)
Ewald Arenz- "Meine kleine Welt"
Für viele Leute mögen Kurzgeschichten vielleicht nicht das Richtige sein, für andere sind sie die ideale Form des Lesens. Ewald Arenz' Geschichten eignen sich bestens für den Strand. Oder für kurz vor dem Einschlafen, wenn eh nicht mehr genug Aufmerksamkeit vorhanden ist für einen 400-Seiten Wälzer. Arenz, der uns in ebensolchen Wälzern gern mitnimmt in "Altes Land" oder uns erzählt, wie "Der große Sommer" (s)einer Jugend war, kann auch kurz.
Dafür muss seine Familie herhalten, die ist riesig und bietet 1000 Anlässe für kurze erzählenswerte Geschichten. Ob er sich nun selbst zu Hause ausschließt und sein Sohn ihn nicht hereinlässt, weil es zu spät ist, um "Männern" (und sei es der eigene Vater) die Tür zu öffnen, er "mit der Reeperbahn fährt" oder der Familienurlaub seziert wird – Ehefrau Juliane und die Kinder Theo, Phillys und Otto müssen für allerlei Erzählungen herhalten. Zum Glück scheinen die Arenzens echt locker zu sein … (arsvidendi Verlag) (soe)
Martin Suter - "Einer von euch"
Ein Roman. Über einen Helden. Nicht irgendein Held, sondern ein Fußball-Held. Das ist Gott-gleich. Dabei ist es doch nur der Basti, um den es hier geht. Wenn der Schweini, so wird der Basti auch gern genannt, den Raum betritt (und sei es auch nur via TV), dann geht bei 98 Prozent der Deutschen die Sonne im Herzen auf. Dabei nuschelt der Sebastian Schweinsteiger, was einem besonders auffällt, seit er Fußball nicht mehr spielt, sondern kommentiert. Sei's drum – der Basti kann machen, was er will, er ist Everybody's Darling. Und nur Nörgler wie die Autorin können es kaum fassen, dass er Pärchen-Werbung mit seiner Frau für eine Hosenmarke macht. Aber damit wären wir überleitungsweise immerhin bei seiner Frau, die nicht irgendeine Frau ist, sondern Ana Ivanovic, und die wiederum war mal eine richtig gute Tennisspielerin. Die beiden sind sowas wie Heilige, mindestens wie Gandhi und Mutter Theresa, warum, erschließt sich mir zwar nicht sofort, aber wenn man was anderes behauptet, wird man von den bereits erwähnten 98 Prozent der Deutschen mindestens einen Kopf kürzer gemacht.
Sie waren Sport-Stars, bis sie beschlossen, keine mehr zu sein. Das alles ist jedoch egal, denn wer einen guten Roman lesen möchte, der auf Tatsachen beruht, der liest "Einer von euch" von Martin Suter. Denn der Suter, der kann ungefähr so gut schreiben wie die Schweinsteiger-Ivanóvics mit Bällen konnten. Und man muss sagen, dass sich dieser renommierte Schriftsteller wirklich viel Mühe gegeben hat, sogenannte "Fun"-Facts über einen Fußballspieler und seine Frau zusammenzutragen und diese dann so zu Papier zu bringen, dass selbst Leute, die denken: "Warum macht dieser Spitzensportler jetzt Hosenwerbung mit seiner Frau?" an vielen Stellen in "Aaaahs!" und "Oooohs!" vor Lesevergnügen ausbrechen könnten. (Diogenes Verlag) (soe)
Nine Olausen Nielebock – "Von Monsterschleim, Gummihühnern und Freilandrosen"
Die Autorin hat bereits in einigen Berufen gearbeitet. Einer ist ihr so gut im Gedächtnis geblieben, dass sie darüber ein Buch geschrieben hat. Nine Olausen Nielebock (der Name ist echt, sie wurde in Norwegen geboren) war Requisiteurin beim Film, als man noch mit Plastikwaffen im Handgepäck reisen konnte, ohne festgenommen zu werden. Nine hat es sich zur Aufgabe gemacht, davon zu erzählen, wie das so war beim Film, früher, als es noch keine Handys gab, als man auch mal als Double einspringen musste, weil der Star schon abgereist war, und weil das Filmbusiness ein wunderbares Business ist, verrückt und unberechenbar. Warum sie dann nicht mehr dort arbeitet? Weil sie selbst findet, dass es bessere gibt als sie. Vielleicht nicht so nett wie sie, aber besser. Das können wir von außen natürlich nicht beurteilen, fest steht aber, dass sie sehr vergnüglich schreiben kann und den Leser mitnimmt an viele Filmsets.
Nine ist eine Requisiteurin a.D., also außer Dienst, aber so ganz nimmt man ihr das nicht ab, dieses "a. D." - zu begeistert schreibt sie davon. Dieser Beruf braucht Fingerspitzengefühl, nehmen wir nur mal eine Szene, in der Lebensmittel vorkommen: Ist der Schauspieler oder die Schauspielerin Veganerin? Alkoholiker? Hat die Person allgemein eine Essstörung? Eine Allergie? Da kann man sich ganz schön in die Nesseln setzen, das braucht Vorbereitung. Oder Improvisationstalent. Und viel Empathie und Psychologie. Von allem hat Nine Olausen Nielebock reichlich – und so ist ihr Buch deswegen auch ein vergnüglicher Ritt durch die Zeit und die Filmsets, an denen sie, zwischen Sylter Freilandrosen bis zu Loriot'schem Kulturgut, gearbeitet und gewirkt hat. (Charles Verlag) (soe)
Nicole und Christian Knobloch - "Im Labyrinth der Nerven"
In den Fallgeschichten aus einer neurologischen Praxis geht in anschaulicher Art und Weise darum, wie Menschen mit psychiatrischen oder neurologischen Problemen geholfen werden kann, die woanders kaum mehr Hilfe erwarten konnten: Die Knoblochs gehen den Ursachen von tauben Gliedmaßen, höllischen Kopfschmerzen oder Wahnvorstellungen auf detektivische Art und Weise nach. Verzweiflung macht sich breit, wenn ein Mensch von Arzt zu Arzt geht, und auch wenn man beim Arzt am liebsten immer hören möchte: "Alles in Ordnung", so macht diese Diagnose doch einige Patienten wirklich unglücklich.
Denn zu gern würden sie wissen, woher ihre Schmerzen kommen. Oder ihr psychisches Leiden. Nicole und Christian Knobloch erzählen daher von Patienten mit scheinbar ausweglosen Problemen, und dabei reicht der Katalog von Blasenschwäche über Erschöpfung bis Zittern, von unerklärlichem ADHS über ein ewiges Down-Gefühl bis hin zu "Schildkröten im Bauch". Dagegen helfen – neben Zuhören und Verständnis zeigen – oftmals ganz simpel zwei Dinge: eine gute Portion Krötol – oder ein Placebo. (Edel Verlagsgruppe) (soe)
Bernardine Evaristo - "Manifesto - warum ich niemals aufgebe"
Mit "Mädchen, Frau etc", hat Bernardine Evaristo einen internationalen Bestseller hingelegt, von dem auch US-Präsident Barack Obama damals schwärmte. Sie war in allen Feuilletons und gewann 2019 mit 60 Jahren den Booker-Prize. Dass dieser Erfolg aber keinem Überraschungs-Shootingstar, keiner literarischen Debütantin in den Schoß fiel, das macht Evaristo in ihrem "Manifesto" deutlich. Darin erforscht sie ihre Kindheit, ihre Sexualität, ihr kreatives Schaffen, ihren Aktivismus. Schön und klar aufgebaut und geschrieben, beschreibt Evaristo in "Manifesto" ein Leben, das vor allem darin besteht, Resilienz aufzubauen.
Innere Kraft und Widerstand gegen die ständige Kränkung aufzubauen, als eines von acht braunen Kindern in einer "mixed-raced" Familie der britischen Working-Class als Außenseiterin abgestempelt zu werden. Ein Jahrzehnt lang Widerstand gegen die heteronormative Welt als feministische Theater-machende Lesbe. Widerstand und Kraft, einer toxischen Beziehung zu entfliehen und sich zu gestehen, wieder an Männern interessiert zu sein. Und natürlich: Immer wieder die Kraft aufzubringen, an die eigene Stimme zu glauben. Was sich bei Evaristo so leicht und inspiriert liest, ist am Ende das Ergebnis vieler, vieler Überarbeitungen, großem Durchhaltevermögen beim Kampf gegen Absagen und Ablehnungen und der Selbst-Vergewisserung, dass die eigene Stimme wichtig ist. Nicht neidisch auf andere schauen, konstruktive Kritik annehmen, Netzwerke aufbauen, andere Stimmen stärken und vor allem eine starke Vision von dem entwickeln, was man erreichen will. Am Ende lädt Evaristos Manifesto den kreativen Akku auf, wenn Selbstzweifel ihn aufzufressen drohen. Bei mir jedenfalls. (Tropenverlag) (sla)
George Saunders - "Bei Regen in einem Teich schwimmen"
Vorsicht! Dieses Buch ist etwas für Nerds. Büchernerds. Und zwar solche, die von Klassenzimmern in alten Backsteingemäuern träumen, wo sich draußen das Laub färbt und drinnen die alte Heizung klopft, während man überlegt, ob Tschechow oder Turgenjew ihre Geschichten besser aufgebaut haben. Oder doch Tolstoi? George Saunders, der Kurzgeschichten-König und Booker-Preisträger, hat ein Buch für alle geschrieben, die noch nicht seine Creative-Writing-Seminare an der Universität von Syracuse belegen konnten. Für "Bei Regen in einem Teich schwimmen" hat sich Saunders vier russische Großmeister der Literatur vorgeknöpft, erklärt uns, warum deren Kurzgeschichten so gut funktionieren und verteilt anschließend Hausaufgaben. Obwohl es also ein richtiges Arbeitsbuch ist, wird Saunders schon nach ein paar Seiten zum Lieblingslehrer - besonders, wenn er witzig und erfrischend von seinem eigenen Scheitern berichtet. Aber er hat auch ein paar unangenehme Wahrheiten für angehende Schriftsteller im Gepäck.
1. Die Autorin, die wir werden wollten, ist nicht immer die Autorin, die wir sind. Dafür sind wir einzigartig. (Saunders selbst wollte Hemingway werden und wurde doch nur … Saunders.)
2. Autoren, die am Ende veröffentlichen, sind die, die bereit sind, ihre Texte wieder und wieder zu überarbeiten.
3. Autorinnen, die Erfolg haben, sind die, die viele, viele, viele Stunden am Schreibtisch sitzen. (siehe 2).
Einige Stunden davon kann man schon mal mit diesem Buch verbringen. Und nicht zuletzt auch lernen, wie elegant sich das Gendern anfühlt, wenn man einfach viele Gelegenheiten nutzt, die weibliche Form einzusetzen, ohne eine große Geschichte daraus zu machen. (Luchterhand) (sla)
J.L.Carr - Leben und Werk der Hetty Beauchamp
Kann ein Lehrer, dazu noch ein alter und bereits gestorbener aus England, einen Frauenroman schreiben? Ja, kann er, wenn er J.L. Carr heißt, gar keinen Frauen- sondern einen Coming-of-Age-Roman schreibt und witzig, pointiert und gleichzeitig scharfsinnig eine junge Frau beim Erwachsenwerden und Sich-Emanzipieren begleitet. Hetty ist ihr Name, sie lebt in Ostengland, und wir befinden uns in den Endzügen der 80er-Jahre, die vielleicht in Berlin spannend waren, aber nicht unbedingt in Hettys kleinbürgerlichem Elternhaus. Hetty will weiter, sie träumt davon, Literatur zu studieren, und als sie erfährt, dass sie adoptiert ist, läuft sie endgültig weg - raus aus der Enge, fort von ihrem cholerischen Vater und vor allem läuft sie weg vor einer Zukunft, die sie sich wie folgt ausmalt: "Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es noch mehr geben muss als fünfzig Ehejahre lang Nacht für Nacht von Männerarmen eingeschnürt zu werden, drei Mal am Tag eine Mahlzeit aufzutischen und am nächsten Tag denselben Trott von vorne zu beginnen." Wie gesagt, es sind die Achtziger Jahre, die Ängste klingen jedoch nach Asbach uralt.
Wie Hetty in die Welt aufbricht, wie sie ihre Pläne zu erreichen versucht, erkennt, dass es nicht wichtig ist, woher wir kommen, sondern wohin wir wollen, welch schräge Typen sie trifft (unter anderem aus vorherigen Romanen des Autors, was ein witziger Side-Effekt ist), das liest sich ganz wunderbar. Die zweite Hauptrolle in diesem Buch von 1988 (Originaltitel: "What Hetty Did") spielt nämlich der britische Humor. (Dumont) (soe)
Quelle: ntv.de