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Jens Harders "Gamma" Wenn die Maschinen die Herrschaft übernehmen

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Blick in die Zukunft: Was erwartet uns?

Blick in die Zukunft: Was erwartet uns?

(Foto: Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2025)

Künstliche Intelligenz ist Versprechen und Gefahr zugleich. Und am Ende übernimmt sie die Herrschaft. So zumindest in Jens Harders "Gamma". Es ist ein Comic über die Zukunft, bis zum Ende des Universums. Das ist nicht immer leicht zu ertragen, in seinem Bilderreichtum aber lohnend.

Wir werden alle sterben. Das steht schon mal fest. Nichts bleibt, das an uns erinnert. Alle Spuren menschlicher Zivilisation werden ausgelöscht, wenn das Universum sich wieder zusammenzieht und in einem Big Crunch kollabiert, einem umgekehrten Urknall. Ganz am Ende von "Gamma" bleibt vom Universum nur ein kleiner blauer Punkt. Es ist das Finale von Jens Harders epischer, vier Bände umfassenden Comic-Geschichte des Universums.

Es war ein kleiner roter Punkt, mit dem Comiczeichner Harder die Reihe vor mehr als 15 Jahren gestartet hat - der Urknall. In "Alpha" erkundete er die Entstehung des Universums, unseres Sonnensystems, der Erde und von Flora und Fauna. In zwei Bänden "Beta" verfolgte er die Entwicklung des Menschen und der Zivilisation, erst bis zum Beginn unserer Zeitrechnung, dann bis zur Gegenwart.

Sind wir allein im Universum?

Sind wir allein im Universum?

(Foto: Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2025)

Nun folgt "Gamma", der Abschluss der Reihe, der den Blick bis zum Ende des Universums wagt. Wobei der von Harder dargestellte Big Crunch nur eine Theorie ist - neben Big Rip und dem derzeit von Forschern am wahrscheinlichsten bewerteten Big Freeze. So wie alles, was Harder zeigt, Theorie ist, nur eine Möglichkeit der Entwicklung.

Einiges davon ist logisch: Fossile Energieträger werden irgendwann abgelöst, sie sind nun mal endlich. Anderes ist theoretisch gut belegt: Unsere Sonne brennt in Milliarden Jahren aus und verschlingt die Erde. Dazwischen aber ist Harder, wie er selbst zugibt, "mehr oder weniger völlig im Nebel unterwegs". Er verlasse Seite für Seite mehr und mehr gesichertes Terrain und bewege sich im Nebel der Spekulation, sagt er.

Mehr Dystopie als Utopie

Wie aber sieht sie aus, die Zukunft? Insgesamt nicht sehr optimistisch. Die Auswirkungen von Klimawandel und Künstlicher Intelligenz nehmen großen Raum im Buch ein. Katastrophen wie steigende Meeresspiegel, ein Supergau oder eine Ebola-Pandemie sowie das Erstarken extremistischer Kräfte stehen dem Sieg über den Krebs, technologischen Fortschritten und der nachhaltigen Sicherung der Energieversorgung gegenüber. Die Überbevölkerung wird durch den Einbruch der Geburtenrate gestoppt, die Erderhitzung durch den Ausbruch eines Supervulkans.

Abschluss der Großen Separation: Mensch und Tier verlassen die Erde.

Abschluss der Großen Separation: Mensch und Tier verlassen die Erde.

(Foto: Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2025)

Die Menschheit wird von künstlichen Geschöpfen zurückgedrängt: erst in überkuppelte Supersphären, dann auf Basen im Sonnensystem, schließlich in die Galaxie. Die Maschinen übernehmen die Herrschaft - laut Harder dauert das aber noch ein paar Jahrhunderte. Pan-Ökozid und Große Separation, Ultimative Kybernetische Ablösung, Transhumanismus und QBots, Symbiotische Boliden und das Zeitalter des galaktischen Gewebes: Harder versucht, Worte für Entwicklungen zu finden, die kaum begreifbar sind.

Doch auch wenn das fiktiv ist: Harder greift es nicht aus der Luft. Er hat sich intensiv mit Zukunftsforschung befasst, mit Prognosen, sofern sie "einigermaßen plausibel erschienen und nicht völlig dem Reich der Fantasie entspringen", wie er es ausdrückt. Er hat Zeitschriften wie "Science", "National Geographic" und "Geo" gelesen, dazu Mitteilungen von Nasa und Esa. Aber auch Bücher von Jules Verne und Science-Fiction-Filme, Comics, Konzeptstudien und Computerspiele haben ihre Spuren hinterlassen. So paradox es klingt: "Gamma" ist ein kulturelles Gedächtnis der Zukunftsvisionen.

Mit Verfremdungen betont Harder die Ungewissheit der Zukunft. Für Leserinnen und Leser ist das herausfordernd.

Mit Verfremdungen betont Harder die Ungewissheit der Zukunft. Für Leserinnen und Leser ist das herausfordernd.

(Foto: Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2025)

Die Unsicherheit des Kommenden spiegelt sich künstlerisch in Verfremdungen und Verzerrungen von Text und Bild. Wie schon in den Vorgänger-Bänden bieten die wenigen Bildunterschriften nur eine grobe Orientierung. Sie sind absichtlich mit Fehlern gespickt, mit Auslassungen und Sonderzeichen. Und sie orientieren sich an Kunstsprachen wie George Orwells "Neusprech" oder Programmiersprachen. Der Text soll wie eine nicht vollständig aus der Zukunft empfangene Information wirken. Ein Beispiel: "In den R0b0Zonen verklin9en letzte Gefe<hte, dan_n proKlamiiert die Zental-AGI auf Gaia Eisernen Frieden."

Ein Rausch der Bilder

Dasselbe gilt für die Bilder. In früheren Bänden hat Harder seine Bildvorlagen im eigenen realistischen Stil nachgezeichnet, nun verzichtet er völlig auf Stift und Papier. Bilder werden mithilfe des Computers verfremdet: durch Konturlinien, Filter oder weiße Auslassungen. Ein monochromes Blau verdüstert manche Panels bis zur Unkenntlichkeit. Als ob man ein hochauflösendes Foto per Fax senden würde.

Doch nicht nur die rein computerbasierte Umsetzung des Buchs wird Puristen auf die Palme bringen, sondern vor allem die Verwendung artifizieller Bildgenerierung - Zukunft per Prompt. Im Feld der Zeichenkunst, in dem viele Illustratoren wegen KI ihre Aufträge verlieren, wird Harders Verwendung eben dieser Technik nicht gerade auf Gegenliebe stoßen. Selbst wenn sie im Sinne des Buches folgerichtig ist.

Jens Harder beendet mit "Gamma" seine vierbändige Geschichte des Universums.

Jens Harder beendet mit "Gamma" seine vierbändige Geschichte des Universums.

(Foto: anjazwei.de)

Je weiter der Band fortschreitet, desto mehr Platz nehmen ohnehin synthetische Figuren und roboterhafte Gebilde ein, gleichmäßige Formen und mathematische Kurven, fraktale und universale Strukturen. Im Kleinen wie im Großen: Technische Superkonstruktionen überformen die Erde, galaktische Prozesse ordnen das Universum.

Die Verfremdungen sollen nicht nur die Vagheit der Voraussagen betonen. Sie sollen auch den Lesefluss hemmen. Harder will die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser fordern. Womit wir beim Herz seiner Reihe angelangt sind: Wie auch die früheren Bände ist "Gamma" mehr Bilderrausch denn stringente Erzählung, mehr Kunstwerk denn Sachcomic. Harder setzt Entwicklungen aus Einzelteilen zusammen, erzeugt anhand von Auswahl und Anordnung der einzelnen Bilder Assoziationen.

Von Albrecht Dürer bis Jack Kirby

Bereits in "Alpha" und "Beta" griff er auf Darstellungen aus verschiedensten Epochen und Quellen zurück. Doch sie waren realistischer dargestellt und leichter konsumierbar, weil das historische Bildgedächtnis geradezu automatisch Verbindungen hergestellt. Das Unbekannte in "Gamma" ist weniger zugänglich. Zwar setzt Harder erneut auf das Nebeneinander von Fotos und Grafiken, Filmstills und Comicbildern - von Albrecht Dürers "Apokalyptischen Reitern" bis zum Videospiel "Anno 2205", von Pablo Picasso bis Comiclegende Jack Kirby.

Doch die Zukunft, das unentdeckte Land (frei nach Star Trek), erfordert Aufmerksamkeit. Einiges bleibt undeutlich, manche Bildunterschrift rätselhaft. Mehr grafische Klarheit, mehr Deutlichkeit wären gut gewesen, um die Verständlichkeit zu erhöhen. Zum Glück erklärt Harder im Anhang nochmal ausführlich seine Vorgehensweise wie auch die Entwicklung des Universums. Und er lässt auch den Humor nicht vermissen. Bilder aus der Serie "Futurama" gehören genauso dazu wie ein Stichpunkt in der Chronologie: 2078 erhält erstmals eine Comickünstlerin den Nobelpreis für Literatur, für ein begehbares Möbiusband.

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"Gamma" ist erzählerisch mutig und grafisch herausfordernd. Es ist konsequent nach vorne gedacht und logisch in die vierbändige Reihe eingebettet. Allein für deren Beendigung gebührt Harder Applaus. Auch wenn er es den Leserinnen und Lesern diesmal nicht leicht macht. Doch dranbleiben lohnt sich: Die futuristischen Bilderwelten faszinieren, erschrecken, werfen Fragen auf. Man darf sich nur nicht kirre machen lassen von dem, was kommt, vom Ende der Menschheit und der Erde. Zukunft ist gestaltbar. Und am Ende müssen wir alle sterben. "Früher war sogar die Zukunft besser", hätte Karl Valentin dazu gesagt.

Quelle: ntv.de

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