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2000 Jahre als Comic Wir nennen es Zivilisation

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Die Welt im Jahr 1: Neuseeland ist noch nicht besiedelt, anderswo blühen Hochkulturen.

(Foto: Jens Harder, Carlsen Verlag Hamburg, 2022)

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Die vergangenen 2000 Jahre in 2000 Bildern zu erzählen, ist eine Herausforderung. Zeichner Jens Harder meistert sie mit einer symbolisch aufgeladenen Bilderflut, vielen Assoziationen und einer düsteren Grundstimmung angesichts der Geschichte der Menschheit.

In erdgeschichtlichen Dimensionen sind 2000 Jahre ein Klacks. Der Urknall ist laut wissenschaftlichen Berechnungen fast 14 Milliarden Jahre her, die Erde 4,54 Milliarden Jahre alt. Der archaische Homo Sapiens entstand vor 300.000, die ersten Hochkulturen des modernen Menschen vor 6000 Jahren. Rein rechnerisch bilden die vergangenen gut 2000 Jahre also nur einen Wimpernschlag der Geschichte.

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Harder mischt immer wieder historische Darstellungen mit Referenzen - hier aus "Conan, der Barbar" und "Asterix".

(Foto: Jens Harder, Carlsen Verlag Hamburg, 2022)

Und dennoch bilden die zwei Jahrtausende seit der Zeitenwende den Kern des weltweiten kulturellen Gedächtnisses. Sie sind vollgepackt mit Ereignissen, Entwicklungen und Erfindungen, mit der Entstehung von Reichen und deren Ende, mit der Eroberung, Erforschung und Unterwerfung der Welt, mit Monumenten, Aufzeichnungen - und Bildern.

Umso erstaunlicher, dass der Comiczeichner Jens Harder jene 2000 Jahre auf 368 Seiten erzählt, in gut 2000 Bildern. Der opulente Band "Beta ... civilisations 2" ist der dritte Teil seiner Reihe über die Geschichte der Erde. Nach "Alpha" (2010) über die Zeit vom Urknall bis zum Urmenschen und "Beta ... civilisations 1" (2014) über die Entwicklung des Menschen bis zur Zeitenwende legt er nun einen bildgewaltigen Gang durch die Geschichte seit der Hochantike vor, wie die Vorgänger erschienen im Carlsen Verlag.

DJ der Weltgeschichte

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Vom Rechenschieber zum Computer - immer wieder wird die Chronologie durchbrochen, um technische Entwicklungen darzustellen.

(Foto: Jens Harder, Carlsen Verlag Hamburg, 2022)

Seinem Konzept bleibt der in Berlin lebende Künstler treu: Aus einer Vielzahl an grafischen Darstellungen mixt er als DJ der Weltgeschichte einen eigenen Rhythmus. Neben wissenschaftlichen Schautafeln stehen Kunstwerke und Gemälde, Fotos und Videoszenen oder popkulturelle Referenzen von Charlie Chaplin bis zu den Simpsons: Die Motive dienen Harder als Vorbilder, er zeichnet jedoch jedes einzelne Bild in seinem eigenen Stil nach.

Die Auswahl des Bildmaterials ist subjektiv, doch einerseits ist Harder darauf bedacht, einen eurozentristischen Blick zu vermeiden, auch wenn sich das nicht nur aufgrund des zur Verfügung stehenden Materials als schwierig erweist. Andererseits ruft die Bilderflut bei Leserinnen und Lesern ganz unterschiedliche Assoziationen hervor, erlaubt verschiedene Schwerpunkte und Blickwinkel. Nur selten flechtet Harder Text ein, der hier und da Erklärungen zu wichtigen Entwicklungen bietet. Stattdessen verlässt sich der Zeichner ganz auf die Kraft der Bilder und ihrer Auswahl, was angesichts der Masse an Material Leserinnen und Leser vor eine Herausforderung stellt.

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Harder arbeitet bereits am vierten Band seiner Reihe.

(Foto: anjazwei.de)

Prinzipiell verfolgt Harder die Entwicklung der vergangenen 2000 Jahre chronologisch, von Antike über Mittelalter bis Neuzeit - mit allen nötigen Zuspitzungen, Sprüngen und Auslassungen. Doch am stärksten ist das Buch, wenn es anhand bestimmter Beispiele den Zeitstrahl durchbricht, wenn es sich auf Ideenlinien konzentriert. So wird die Darstellung von Erfindungen mit den Konsequenzen kombiniert, die sich daraus bis heute ergeben - von der Erfindung des Sprengstoffs bis zur Atombombe, von der ersten Lupe bis zum Weltraumteleskop, von mechanischen Geräten zum Großrechner.

Oder historische Entwicklungen werden durch aktuelle Ereignisse kommentiert, manchmal geradezu konterkariert. Bilder der Völkerwanderung in der Spätantike stehen neben einem Bild heutiger Flüchtlinge - die Vertreibung von Menschen durch Krieg und Gewalt gibt es zu jeder Epoche. Die gewaltsamen Anfänge des Frankenreichs finden auf einer Seite mit Aachener Karlsbrunnen und EU-Flagge ihren dramaturgischen Höhepunkt.

Ein düsterer Grundton

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Frauen kämpfen für ihre Gleichberechtigung - bis heute.

(Foto: Jens Harder, Carlsen Verlag Hamburg, 2022)

Auswahl der Bilder und deren Anordnung lassen bei einigen Themen auf Harders eigene Einstellung schließen, in der Kritik an global agierenden Banken zum Beispiel, die er dem Beginn des Kolonialismus gegenüberstellt. Anders als in den beiden Vorgängerbänden, in denen die Geschichte der Erde vor allem als Fortschrittserzählung dargestellt wird, zeigt der Zeichner in diesem Band auch immer wieder Brüche in der Entwicklung auf: untergegangene Reiche, zerrissene Handelsnetze, verlorenes Wissen, verschüttete Erinnerungen.

Szenen über die Vergänglichkeit von Kultur und - sogenannter - Zivilisation hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Seuchen wie die Pest, die Großteile der Bevölkerung dahinraffen, werfen Gesellschaften um Jahrhunderte zurück, Eroberungen machen kulturelle Errungenschaften zunichte, Ideologien zerstören bestehende Ideen - es braucht mitunter Jahrhunderte, bis an den verlorenen Fortschritt angeknüpft werden kann. Vergleichsweise großen Raum nehmen Themen wie Kolonialismus, Sklaverei oder Rassismus und Nationalsozialismus ein. Trotz aller Erfindungen, aller Entwicklungen und Erleichterungen des menschlichen Lebens verleiht das dem Band einen düsteren Grundton.

Das gilt bis zum Schluss: "Beta ... civilisations 2" endet im Computerzeitalter ab 1945, mit Atomkraft, fortschreitender Globalisierung und Digitalisierung, Umweltzerstörung und Klimawandel. Je näher Harder der Gegenwart kommt, desto kleinteiliger wird die Darstellung - das 20. Jahrhundert nimmt besonders viel Raum ein. Das sorgt für ein historisches Ungleichgewicht - wieso etwa sollte die DDR in solch einer Erdgeschichte überhaupt vorkommen -, doch ist angesichts von Harders eigener Biografie - er stammt aus dem ostsächsischen Weißwasser - nachvollziehbar.

Zusammenhänge herstellen, Ideen verfolgen

Doch Harder geht es ohnehin nicht um eine objektive, streng wissenschaftliche Darstellung der Geschichte wie etwa bei der Comicadaption von Yuval Noahs Bestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit". Sein Ziel ist es, Leserinnen und Leser durch die Bilderflut anzuregen, Entwicklungslinien herauszuarbeiten, Zusammenhänge herzustellen, Ideen zu verfolgen - und mit ironischen Einschüben zu unterhalten. Dass dabei Themen oder Aspekte auf der Strecke bleiben müssen, ist erwartbar.

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Gleichzeitig kann sich der Band nicht ganz von überkommenen Vorstellungen lösen. Zwar versucht Harder sichtlich, in allen Epochen auch Frauen und ihre Perspektive darzustellen, letztlich dominieren in der Bildauswahl aber historische Männerfiguren - weil diese sehr oft den Lauf der Geschichte bestimmt haben. Ähnlich ist es mit der eurozentrischen Sicht. Harder legt viel Wert auf die Darstellung asiatischer, afrikanischer, amerikanischer oder polynesischer Kulturen. Im Gesamtbild überwiegen jedoch vor allem in der neuesten Zeit westliche Bilder mit ihrer großen Symbolkraft - was nicht nur am Mangel überlieferter Darstellungen ferner Erdwinkel liegt, sondern auch am hohen Wiedererkennungswert.

Auch wenn Harder in "Beta ... civilisations 2" in der Gegenwart angelangt ist, endet damit nicht seine Reihe. Ein vierter Band mit dem Titel "Gamma" ist bereits in Arbeit, in dem der Zeichner in die Zukunft blickt. Grundlage dafür sollen utopische und Science-Fiction-Literatur sowie Filme sein - mit ihren Utopien oder Dystopien über die Zukunft der Menschheit. Bleibt Harder seiner Linie treu, wird es erneut ein bildgewaltiger philosophischer Exkurs.

Quelle: ntv.de

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