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Evolution lässt uns nicht los Der Urmensch im Supermarkt

Auch das heute so selbstverständliche Lachen ist eine evolutionäre Errungenschaft.

Auch das heute so selbstverständliche Lachen ist eine evolutionäre Errungenschaft.

(Foto: Jens Harder / Carlsen Verlag Hamburg 2014)

Ein Wimpernschlag: In der Erdgeschichte spielt die Evolution des Menschen eine eher kleine Rolle. Zeichner Jens Harder hat ihr aber einen so umfangreichen wie beeindruckenden Comic gewidmet. Er fragt sich, wie viel Urmensch noch heute in uns steckt.

Steppe und Supermarkt: Wie viel Urmensch steckt heute noch in uns?

Steppe und Supermarkt: Wie viel Urmensch steckt heute noch in uns?

(Foto: Jens Harder / Carlsen Verlag Hamburg 2014)

Keule oder Golfschläger? Vor mehr als zwei Millionen Jahren hauten die Urmenschen ihren Beutetieren eins über, heute schlagen Golfer kleine weiße Bälle über das Grün. So unterschiedlich Zeit und Umstände auch sind - das Prinzip der künstlichen Extension und der Muskelbewegungen ist nahezu dasselbe. Wie viel Urmensch steckt also noch in uns, im modernen Menschen, der selbst ernannten Krone der Schöpfung?

Jens Harder hat sich mit dieser Frage beschäftigt - und den Vergleich zwischen Keule und Golfschläger gezogen. "Beta … civilisations Volume I", erschienen bei Carlsen, ist der zweite Band seiner so ambitionierten wie faszinierenden Evolutionsgeschichte in Comicform. Hatte er im ersten - mehrfach preisgekrönten - Band "Alpha … directions" den Bogen vom Urknall bis zum Auftreten der ersten Urahnen der Menschen gespannt, zeichnet er nun über einen Zeitraum von mehr als vier Millionen Jahren die Evolution der Menschen und ihre Entwicklung bis in die Antike weiter.

Glänzend komponierte Seiten

Jens Harder wurde 1970 in Weißwasser in der Oberlausitz geboren. Er studierte Grafik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und arbeitet seitdem als Illustrator und Comiczeichner in Berlin.

Jens Harder wurde 1970 in Weißwasser in der Oberlausitz geboren. Er studierte Grafik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und arbeitet seitdem als Illustrator und Comiczeichner in Berlin.

(Foto: anjazwei.de)

Akribisch hat Harder zur Entstehung der Primaten, Menschenaffen, Urmenschen und frühen Zivilisationen recherchiert. Trotzdem weiß er um die Lückenhaftigkeit der Forschung. "Es ist, als ob man mit einem U-Boot durch die Tiefsee fährt und mit einem Scheinwerfer hier und da ein paar Lebewesen aus der Dunkelheit ins Licht holt", erzählt er im Gespräch mit n-tv.de. "Und bei jeder Fahrt entdeckt man neue Arten und neue Entwicklungen, aber vollständig ist das Bild noch lange nicht." Deshalb erhebt er auch nicht den Anspruch, in seinem Buch die einzige Wahrheit darzustellen. Der bekennende Atheist sieht in seinem Buch eher "den Versuch einer möglichen Entstehungsgeschichte", wie er im Nachwort schreibt.

Harder lässt vor allem die Bilder sprechen. Während einzelne Sätze die wichtigsten Etappen der Frühgeschichte beschreiben, zeigen die Panels, wie die Nachkommen von rattenartigen, insektenfressenden Baumbewohnern die Wälder verlassen, in der Steppe den aufrechten Gang erlernen und sich zu jenen Urmenschen entwickeln, die schließlich die Welt erobern. Um dies adäquat darzustellen, hat Harder etliche Bildquellen aus den verschiedensten Epochen und Ländern zusammengetragen. Diese hat er abgezeichnet, neu zusammengestellt und so ein ganz eigenes Werk geschaffen, das durch seine glänzend komponierten Seiten besticht.

Aus Werkzeugen werden Waffen - die immer gefährlichere Ausmaße annehmen.

Aus Werkzeugen werden Waffen - die immer gefährlichere Ausmaße annehmen.

(Foto: Jens Harder / Carlsen Verlag Hamburg 2014)

Für die Darstellung der Frühgeschichte griff er auf vielfältige Illustrationen anderer Zeichner zurück, vor allem aus der Kinder- und Jugendliteratur und ergänzte sie durch wissenschaftliche Darstellungen und Diagramme. Doch das Konzept von "Beta" geht weit darüber hinaus, denn Harder setzt die Evolution des Menschen permanent mit der weiteren Entwicklung, vor allem aber mit der Kulturgeschichte in Beziehung. Dafür adaptierte er Bildvorlagen aus 30.000 Jahren, von frühen Höhlenmalereien über mittelalterliche Darstellungen bis zu Fotografien, Filmen und berühmten Bildern aus der Popkultur. Diese Verweise und Anspielungen sind stellenweise so stark, dass die Bildfolgen für sich sprechen und den Leser zum Nachdenken über Entwicklungen anregen.

Die Entstehung von menschlichen Horden etwa führt er weiter zu "Horden" kreischender Popfans. Die Entwicklung der Jagd wird mit einem Bild aus dem Film "Der alte Mann und das Meer" flankiert, den frühen Sammlern stellt er heutige Philatelisten gegenüber - und zeigt damit, dass Verhaltensweisen aus der Steinzeit in anderer Form weiterbestehen. Die Entstehung erster Waffen schließlich führt er zu "Dirty Harry" und Panzerfaust weiter und die Erfindung des Rads - die eine zentrale Rolle spielt - baut er aus bis zum Automobil. Im besten Fall werden dabei natürliche Prozesse und Kulturgeschichte miteinander verwoben: Die Entstehung des aufrechten Gangs führt Harder weiter bis zu Michael Jacksons Moonwalk - der Tanz wird zum Höhepunkt dieser Entwicklung. In einer besonders gelungenen Sequenz spannt er schließlich den Bogen von der Entwicklung des Kehlkopfes und der Stimme zur Entstehung verschiedener Sprachen und des Gesangs und assoziiert dies etwa mit Bruegels Gemälde vom Turmbau zu Babel und der Erfindung des Telefons.

Obelix und Fred Feuerstein

Die Bautechnik hat über die Jahrtausende enorme Fortschritte gemacht.

Die Bautechnik hat über die Jahrtausende enorme Fortschritte gemacht.

(Foto: Jens Harder / Carlsen Verlag Hamburg 2014)

Aber auch mit ironischen Brechungen spielt Harder: Was wäre die Steinzeit ohne Fred Feuerstein, was die Antike ohne Obelix' Hinkelsteine und die Römer-Serie aus dem Mosaik von Hannes Hegen? Auch viele andere Comiczeichner inspirierten Harder und flossen in die Darstellungen ein - von Hergés "Tim und Struppi" bis zu Robert Crumbs "Genesis"-Adaption und neueren Arbeiten von Bastien Vivés. Für jedes Bild holte er sich übrigens die Erlaubnis zur Adaption ein, sofern die Rechteinhaber zu ermitteln waren. Keine einzige Anfrage wurde abgelehnt.

Dieses faszinierende Spiel, Frühzeit und Moderne zu verknüpfen, hat durchaus Sinn, weil es auch in der Evolution keine genauen Abgrenzungen gibt. "Man kann nicht sagen, wer der erste Mensch war und wann er lebte", so Harder. "Man kann nur sagen: Bis dahin nennen wir ihn Australopithecus und ab dann bekommt er den Namen Homo, weil sich seine Anatomie verändert hat." Ihm geht es ohnehin nicht um "Faktenreiterei", sondern "um große Tendenzen und Entwicklungen". Als Beispiel nennt er die durch die Agrarrevolution bedingte Bevölkerungsexplosion, die erste Städte entstehen lässt, in denen man schließlich in die Höhe baut, um das Platzproblem zu lösen. "Das wiederum hatte Auswirkungen auf das Machtgefüge", führt Harder aus. "Das sind Sachen, die mich faszinieren und auf die ich den Fokus lege." Indem er Bilder aus Frühzeit, Mittelalter und Neuzeit gegenüberstellt, macht er deutlich, dass sich auch heutige Gesellschaften langsam weiterentwickeln. "Man kann immer nur kleine Schritte gehen und irgendwann steht man plötzlich vor einem völlig neuen Phänomen", sagt er und nennt das Internet als Beispiel.

Der Untertitel "... civilisations" in der Mehrzahl ist dabei bewusst gewählt. "Für mich ist das Ausdruck dafür, dass es nicht die eine Menschheit gibt, die an einem Strang zieht", sagt er. Stattdessen hätten sich die Gruppen, die Afrika verließen, eigenständig entwickelt, teilweise über Tausende Jahre. "Dabei habe ich versucht, einen eurozentristischen Blick zu vermeiden", so Harder. Immer wieder greift er evolutionäre Entwicklungen aus anderen Kulturen auf, aus Südamerika etwa oder aus Australien. Dass Europa sich zugutehält, die Welt "zivilisiert" zu haben, hält Harder für absurd. "Die westliche Lebensweise ist ja nur eine Art, sich in der Welt einzurichten. Die haben damals die Welt nicht zivilisiert, sondern oft funktionierende Zivilisationen zerstört, um dann die eigene Denk- und Handlungsweise über sie zu stülpen".

"Beta ... civilisations Volume I" ist bei Carlsen erschienen, 368 Seiten im großformatigen Hardcover, 49,90 Euro (D).

"Beta ... civilisations Volume I" ist bei Carlsen erschienen, 368 Seiten im großformatigen Hardcover, 49,90 Euro (D).

(Foto: Jens Harder / Carlsen Verlag Hamburg 2014)

Gemeinsam sei den verschiedenen Zivilisationen allerdings die Triebfeder der Entwicklung. "Die ist über lange Strecken nicht so weit weg von Tieren. Es geht um eine Art Aufrüstung, im technischen, im kulturellen oder im sportlichen Sinne: weiterkommen, mehr wollen als andere." Heute sei das zum Teil immer noch so, auch wenn immer stärker altruistische oder soziale Elemente in den Vordergrund rückten.

Doch der Urmensch in uns ist noch da. Harder verweist auf den Soziobiologen Edward O. Wilson, der in einem Interview sagte, dass die Menschheit heute über eine gottgleiche Technik verfüge, aber noch mit mittelalterlichen Institutionen und steinzeitlichen Gefühlen lebe. Der Mensch als Gefangener biologisch-chemischer Prozesse? Das ist in der Wissenschaft ein heiß diskutiertes Thema. Harder will diesem eher pessimistischen Menschenbild nicht ganz folgen, auch wenn er zugibt, dass "man manchmal abhängig ist von den eigenen Launen" und nicht einmal die Technik das ändern könne.

Gilgamesch und Noah

Was ihn zu einem kleinen Ausblick führt: "Hightech-Produkte werden unsere körperlichen Defizite und Mängel, die wir sozusagen seit Jahrtausenden mit uns schleppen, übertünchen und vergessen machen." Das Internet sieht er schon heute als eine Art ausgelagertes Gedächtnis. Und irgendwann werde die Körperoptimierung die Oberhand gewinnen, meint Harder. Damit werde sich auch die Definition von Mensch verändern. "Entscheidend ist dann nicht mehr der haarige, schuppige Körper, den man waschen und füttern muss. Mensch sein meint dann vielleicht die kulturellen Errungenschaften, den Geist und das Denken."

Bis dahin dürfte es aber noch eine Weile dauern. Auch für Harder. Der nun erschienene erste Band von "Beta" endet im Jahr 0, mit der Zeitenwende. Die Fortsetzung "Beta 2" soll dann die Entwicklung bis in die Gegenwart aufzeigen, gefolgt von Zukunftsperspektiven in "Gamma … visions". Zuvor möchte der Zeichner aber noch an zwei Herzensprojekten arbeiten. Einerseits plant er einen autobiografischen Comic über seine Jugend in der DDR, andererseits eine grafische Umsetzung des Gilgamesch-Epos' im Stil babylonischer Reliefbilder. Angesprochen auf die aktuelle "Noah"-Verfilmung erzählt er dann noch, dass es in dem Epos, der älter ist als die Bibel, eine Sintflut gebe und Gilgamesch am Ende den Erbauer der Arche, Utnapischtim, trifft. Auch Geschichten können eben manchmal eine Evolution erleben.

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Quelle: ntv.de

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