Bücher

"Die Kinder sind Könige" Für immer mit rosa Tutu im Netz

Geschenke auspacken und Begeisterung über ein Produkt - ein Klassiker der Kids-Influencer.

Geschenke auspacken und Begeisterung über ein Produkt - ein Klassiker der Kids-Influencer.

(Foto: imago images/Addictive Stock)

Kimmy und Sammy sind Kinder und Internetstars. Bei Instagram und Youtube kann ihnen die ganze Welt beim Aufwachsen zusehen. Das klingt nach heiler Welt, ist aber eine ganz eigene Hölle, aus der es in Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" kein Entrinnen gibt.

Die Französin Delphine de Vigan ist bisher nicht gerade als Thrillerautorin bekannt. Ihr neues Buch "Die Kinder sind Könige", übersetzt von Doris Heinemann, kommt trotzdem auf den ersten Blick wie einer daher. Die sechsjährige Kimmy ist verschwunden, gerade war sie noch Schuhe kaufen und spielte mit ihrem großen Bruder Sammy und Kindern aus der Nachbarschaft Verstecken.

ANZEIGE
Die Kinder sind Könige: Roman
172
23,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

Mélanie Claux, Kimmys Mutter, erlebte selbst die Anfänge der TV-Trash-Formate mit. In ihrem Fall war es eine Fernsehshow, in der es auf den ersten Blick ums Verlieben ging. Die erträumte Karriere bleibt aus, zunächst jedenfalls. Jahre später ist sie eine Instagram-Mum, die ihre Kinder regelmäßig im Internet auftreten lässt. Da werden Schuhe gekauft, Crépes gebacken, immer läuft die Kamera, um den kindlichen Alltag mit der wachsenden Followerzahl zu teilen.

Die kinderlose Ermittlerin Clara Roussel schaut sich unzählige dieser Posts an, um Kimmys Verschwinden, das sich als Entführung herausstellt, auf die Spur zu kommen. Dabei erscheinen ihr die Kinder und besonders Kimmy zunehmend als Sklaven des erfolgreichen Familien-Blogs "Happy Récré". "Das Bedürfnis nach Anerkennung, das aus diesen Bildern sprach, war nicht zu übersehen. Mélanie Claux wollte, dass man sie anschaute, ihr folgte, sie liebte. Ihre Familie war ein Werk, eine Leistung, und ihre Kinder eine Verlängerung ihrer selbst. Die Flut von Emoticons, die sich bei jedem geposteten Bild über sie ergoss, die Komplimente über ihre Kleidung, ihre Frisur, ihr Make-up kompensierten sicher eine Schwäche oder eine Sorge."

Likes als Rendite einer emotionalen Investition

Schnell verlässt der Roman die Thriller-Logik und kommt dorthin, wo de Vigan schon immer zu Hause ist, zur Gesellschaftskritik. Obdachlosigkeit ("No & ich"), Suizid ("Das Lächeln meiner Mutter"), Alkoholmissbrauch von Kindern ("Loyalitäten") waren schon in früheren Büchern Thema. Diesmal geht es um die Vermarktung von Kindern in einer digitalen Welt. "Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus" seien zu Mélanies Motor, ihrem Lebenswerk geworden, schreibt Vigan und es ist unmöglich, Mélanie nicht mit den unzähligen Social Media-Persönlichkeiten in Verbindung zu bringen, die genau das jeden Tag tun. Die Likes, die Begeisterung und Zustimmung unzähliger fremder Menschen beschreibt die Autorin, als "Rendite einer emotionalen und effektiven Investition".

In dem Familienunternehmen müssen die Kinder jeden Tag zur Arbeit erscheinen, um "Geschenke" auszupacken, die Kooperationspartner in bestem Licht erscheinen lassen, um Kleidung vorzuführen, die dann einen Mausklick später bestellbar ist oder um die nächste Einkaufschallenge mitzumachen, die weitere, völlig nutzlose Dinge ins Haus, aber eben auch "so viel Spaß" bringt.

Davon ist Mélanie völlig überzeugt, dass das alles ein Riesenspaß ist. Selbst dann, wenn sie sich eingestehen muss, dass Kimmy immer übellauniger mitmacht. Oder wenn ihr Kimmys Lehrerin sagt, dass das Mädchen zunehmend versteht, dass die Videos von unzähligen unbekannten Menschen angesehen werden. Und natürlich sind die Kinder auf einer Privatschule, das kann sich die Familie selbstverständlich leisten, trotzdem wird Mobbing zunehmend ein Thema.

Spuren in der Seele

All das beschäftigt Mélanie, während ihre Tochter noch verschwunden und auch als sie wieder da ist. Doch in der perfekten Internetwelt ist für Zweifel wenig Platz. Für die möglichen Folgen wählt de Vigan eine weitere Zeitebene, in der Sammy und Kimmy erwachsen geworden sind. Die ehemaligen Kinderstars und Geschwister sind sich fremd geworden, mehr noch. Sie haben jedes Vertrauen in ihre Umwelt verloren, fühlen sich ständig beobachtet, fürchten um ihre ohnehin nur noch in Rudimenten als vorhanden empfundene Privatsphäre.

Der Kontakt zu Mélanie, die immer noch als Influencerin arbeitet, ist inzwischen eher lose. "Seit einiger Zeit melden sich Kim und Sam nicht mehr oft bei ihr. Sie haben die Brücken nicht abgebrochen, das natürlich nicht, dennoch hat sie oft Mühe, die beiden zu erreichen. Das kann sie natürlich nicht mit ihren Abonnenten teilen". Das Bild der hingebungsvollen Mutter, das, des erfolgreichen Familienunternehmens darf keinen Schaden nehmen. Aber natürlich leben Tochter und Sohn in ihren Eigentumswohnungen von den Einkünften, die sie als Kinder erarbeitet haben.

Ein Text über die zuckersüße Social-Media-Welt der Family-Influencer hätte banal werden können, selbst bei Delphine de Vigan. Stattdessen ist er gruselig und beunruhigend geworden, die Beschreibungen, die die erwachsene Kim von ihrem Kinderalltag gibt, sind gleichzeitig beängstigend und voller Grauen. Nach der Folie von "Happy Récré" gibt es in jedem Land vergleichbare erfolgreiche Modelle. Auch auf ihnen verschwinden, wenn man es aufmerksam verfolgt, irgendwann die heranwachsenden Kinder zunehmend, während ihre Videosequenzen im rosa Tutu für immer im Netz verfügbar bleiben. Man hofft, dass sie sich zunehmend ermächtigt fühlen, über ihr Bild im Netz zu entscheiden. Vielleicht ist es aber auch ganz anders, so wie bei Sammy und Kimmy.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen