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Es gibt nur einen Lord: Loreen Deutschlands nächster Eurovision Lost Contest

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Sieg und Niederlage dicht beieinander: Loreen und Lord of the Lost.

Sieg und Niederlage dicht beieinander: Loreen und Lord of the Lost.

(Foto: picture alliance/dpa)

Was ist nur los, Eurovision? Mit Lord of the Lost und "Blood & Glitter" liefert Deutschland endlich mal wieder ab beim ESC. Und trotzdem wird auch dieser Beitrag gnadenlos abgestraft. Über den Sieg bei einem der heikelsten Contests aller Zeiten jubelt dagegen fast schon erwartbar die Schwedin Loreen.

Israels Power-Frau Noa Kirel kam auf einem "Unicorn" dahergeritten (3. Platz, 362 Punkte). Die Trampolinspringer beim Auftritt von Italiens Sänger Marco Mengoni mit "Due Vite" stürzten sich todesmutig in die Tiefe (4. Platz, 350 Punkte). Und Norwegens Vertreterin Alessandra rief sogar die "Queen of Kings" aus (5. Platz, 268 Punkte). Doch am Ende konnten sie alle gegen die wahre Queen des Eurovision Song Contests (ESC) nichts ausrichten: Loreen aus Schweden mit ihrem Song "Tattoo" und summa summarum 583 Punkten.

Die 39-Jährige, die bereits 2012 mit dem Lied "Euphoria" den Wettbewerb im aserbaidschanischen Baku gewonnen hatte, schreibt damit in Liverpool gleich in mehrfacher Hinsicht ESC-Geschichte. Als Interpret konnte vor ihr nur der Ire Johnny Logan den Contest zweimal für sich entscheiden (als Songwriter ist das auch noch ein paar anderen geglückt). Eine Frau, die - egal, ob als Künstlerin oder als Komponistin - zweimal triumphieren konnte, gab es bis dato noch gar nicht. Und schließlich lässt Loreen auch ihr Heimatland in der ewigen Bestenliste zu Irland aufschließen: Beide haben den ESC nun insgesamt siebenmal gewonnen.

Dabei war der Sieg der Schwedin schon nahezu erwartbar. Nicht nur wegen Loreens Performance, die unbestreitbar zu den besten Darbietungen beim diesjährigen Song Contest gehörte, sondern auch weil er nahezu unisono prophezeit worden war. Können sich die nationalen Jurys, die zur Hälfte an der Entscheidung über den ESC-Sieg mitwirken und in den vergangenen Jahren ohnehin einen regelrechten Schweden-Drall entwickelt haben, von dieser Stimmungslage tatsächlich freimachen? Vielleicht nicht so ganz. Jedenfalls bedachten sie Loreen in der Summe mit sage und schreibe 340 Punkten - und damit fast doppelt so vielen Zählern wie ihrem dahinter rangierenden Liebling Noa Kirel (177 Punkte).

Das Publikum tanzte "Cha Cha Cha"

Wäre es hingegen allein nach dem Publikum gegangen, dessen Stimmen ebenfalls zu 50 Prozent in das Gesamtergebnis einfließen, wäre Loreens historischer Triumph ausgefallen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer in Europa und Australien (oder wo auch sonst immer abgestimmt wurde) sahen stattdessen mehrheitlich den Beitrag vorn, der auch bei den ESC-Feiern, in den Pubs und auf den Straßen Liverpools ganz klar als Fan-Favorit zu identifizieren war: den durchgeknallten Techno-Ballermann-Metal-Mix "Cha Cha Cha" des Finnen Käärijä. Ihn bedachten sie mit 376 Zählern, während Loreen mit lediglich 243 Publikumspunkten ein ganzes Stück dahinter landete. Weil die Jurys für die Standardtanz-Neuinterpretation Marke Finnland jedoch lediglich 150 Pünktchen übrighatten, reichte es für Käärijä mit insgesamt 526 Zählern nicht zum Gesamtsieg.

Das Publikum hätte gern ihn als Sieger gesehen: Käärijä aus Finnland.

Das Publikum hätte gern ihn als Sieger gesehen: Käärijä aus Finnland.

(Foto: picture alliance/dpa/Lehtikuva)

Wie sehr der Geschmack der Jurys und des Publikums bisweilen auseinanderklafft, lässt sich in diesem Jahr auch am deutschen Abstimmungsverhalten gut ablesen. Die Juroren, zu denen etwa Schlager-Urgestein Katja Ebstein und Frida-Gold-Sängerin Alina Süggeler gehörten, gaben Loreen ebenfalls volle zwölf Punkte, während die Schwedin im Televoting hierzulande gerade mal einen Trostpunkt erhielt. Auch die deutschen Fans hätten gern Käärijä zum ESC-Sieger gekrönt - bei den hiesigen Juroren fand er hingegen gar keine Berücksichtigung.

In den beiden Semifinalen hatte die den ESC veranstaltende Europäische Rundfunkunion (EBU) das Jury-Voting in diesem Jahr erstmals seit langer Zeit wieder abgeschafft. Die Stimmen, das fragwürdige Instrumentarium doch bitte auch im Finale ad acta zu legen, könnten nun womöglich noch lauter werden.

Deutschlands letzter Platz ist zum Haareraufen

Allzu gern würde man natürlich auch das Abschneiden der deutschen ESC-Hoffnungsträger Lord of the Lost mit "Blood & Glitter" den Jurys zur Last legen. Doch das geht leider nicht. Jedenfalls sind nicht die Jurys allein dafür verantwortlich, dass Deutschland zum gefühlt x-ten Mal die rote Laterne bei dem Wettbewerb umgehängt bekommen hat. Lediglich die Juroren Tschechiens und Islands konnten sich erbarmen und wenigstens einen beziehungsweise zwei Punkte für den deutschen Beitrag entbehren. Wer jedoch gehofft hatte, das Publikum würde dieses Urteil noch ein wenig relativieren, wurde enttäuscht. Zwar sah es Lord of the Lost im Gegensatz zu den Jurys nicht ganz am Ende des Teilnehmerfeldes, sondern mit seinen 15 Punkten "nur" auf dem drittletzten Platz. In der Summe änderte das jedoch auch nichts mehr: Deutschland erlebte mit insgesamt 18 Punkten und Rang 26 von 26 seinen nächsten Eurovision Lost Contest.

Die Band um Frontmann Chris Harms mag sich damit trösten, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Großbritannien (9 Publikumspunkte) und Spanien (5 Publikumspunkte) auch zwei andere der sogenannten "Big Five" gnadenlos abstraften. Dass die Jurys aber etwa den britischen Beitrag "I Wrote a Song" mit 15 Punkten noch um einiges vor Deutschland einsortierten, ist dann doch zum Haareraufen - Interpretin Mae Muller tat sich nun wirklich schwer, bei ihrem Vortrag auch nur einen Ton richtig zu treffen.

Schien in den vergangenen Jahren, in denen Deutschland sein ESC-Glück mit radiotauglichem Durchschnitts-Pop versuchte, die Pleiten-Analyse relativ einfach zu sein, dürften diesmal viele mit den Achseln zucken. Mit Lord of the Lost schickte Deutschland schließlich nicht nur eine seit vielen Jahren auch international erfolgreiche Band auf Song-Contest-Mission. Die Gruppe lieferte mit "Blood & Glitter" auch ordentlich ab. Dass sie in Liverpool derart unter die Räder geraten würde, hatte - anders als bei so manchem deutschen Beitrag in den Vorjahren - kaum jemand vorausgesehen.

Im ntv.de-Interview hatte Chris Harms vor dem Finale noch auf einen Rang in der vorderen Tabellenhälfte gehofft. Vielleicht würde ein letzter Platz "auch etwas in dir auslösen und dich zerstören", geriet er ins Grübeln. Bleibt zu hoffen, dass es ihm und seinen Mitstreitern gelingt, die Krone wieder zu richten, das Liverpool-Abenteuer als bereichernde Erfahrung abzuheften und nun halt einfach wieder mit Iron Maiden auf Tour zu gehen. Auf die ESC-Gemeinde in Deutschland kommen unterdessen harte Zeiten zu, in denen zwei leidige Themen mit Sicherheit wieder auf die Tagesordnung gespült werden. Erstens: Wie bitte lautet das ultimative Geheimrezept für einen Siegessong? Und zweitens: Kann Deutschland überhaupt beim ESC irgendetwas richtig machen oder wird es bewusst geschnitten?

Beim ESC kann es kein Business as usual geben

Mal ganz abgesehen von der Frage nach Sieg oder Niederlage im Wettstreit des Singsangs geht mit dem 67. ESC eine der bis dato heikelsten Ausgaben der Veranstaltung zu Ende. Einen ähnlich großen musikalischen Solidaritätsbonus, wie er im vergangenen Jahr den Gewinnern Kalush Orchestra sicher zuteilgeworden war, gab es diesmal für die Ukraine nicht. Ihr Beitrag "Heart of Steel" vom Duo Tvorchi landete schlussendlich auf Position sechs. Und so gut und wichtig das Zeichen des ukrainischen Sieges im vergangenen Jahr war, so richtig ist es auch, bei der Bewertung der Beiträge nach und nach wieder den allgemeinen Wettbewerbsgedanken in den Vordergrund zu rücken.

Daneben aber konnte und kann es womöglich auch noch lange keine Rückkehr zum Business as usual beim ESC geben. Für die EBU glich die diesjährige Ausrichtung in Liverpool "on behalf" ("in Vertretung") der Ukraine, wie es stets hieß, einem Ritt auf der Rasierklinge. Ein Ritt, der zumindest mit Blick auf die immer sichtbare Einbindung des tatsächlichen ESC-Gewinners 2022 - bei der Vermarktung der Veranstaltung ebenso wie in den eigentlichen Shows - gut gelungen ist. Auch der andauernde Ausschluss von Russland und Belarus von dem Event ist zweifelsohne alternativlos, so schmerzhaft das auch für manche unbescholtene Künstlerinnen und Künstler sein mag, die so in Sippenhaft für die Taten ihrer Länder genommen werden. Dass Russland just in der ESC-Nacht mit Ternopil die Heimatstadt von Tvorchi bombardierte, ist dafür ein nur allzu trauriger Beleg.

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Der moralische Zwiespalt, in dem sich die EBU in Zeiten des russischen Angriffskriegs befindet, zeigte sich aber zum Beispiel an der Diskussion um ein mögliches Grußwort des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im ESC-Finale. Unter dem notorischen Verweis auf die angebliche politische Neutralität der Veranstaltung lehnte die EBU dies ab und sorgte damit bei vielen wieder einmal für Kopfschütteln. Mal angenommen, die Briten hätten den Contest als echte Sieger ausgerichtet: Wäre wohl auch Englands Premier Rishi Sunak oder gar König Charles per se untersagt worden, ein paar warme Worte an die ESC-Fans zu richten, wenn ihnen danach gewesen wäre?

Welche Tragik sich tatsächlich hinter dem ESC-Dilemma verbirgt, wird besonders deutlich, wenn man es auf die persönliche Ebene von Julia Sanina herunterbricht. Die Frontfrau der ukrainischen Rockband The Hardkiss gehörte zum Moderationsteam der ESC-Shows in Liverpool. Tapfer machte sie ihren Job und verbreitete gute Laune. Am Rande der Veranstaltung räumte sie jedoch ein, wie schwer ihr das Lächeln häufig falle. Jeder Morgen beginne für sie schließlich erst einmal damit, die Nachrichten aus der Heimat zu checken. "Ich hoffe, dass wir in diesen dunklen Zeiten etwas Freude und Licht in die ukrainischen Stuben bringen können", erläuterte Sanina, weshalb sie sich trotzdem der Herausforderung stellte. Eine Herausforderung, deren Ende leider nicht abzusehen ist und die womöglich auch auf kommende Ausgaben des Song Contests noch zukommen wird.

Quelle: ntv.de

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