Drill, Bodyshaming, Magersucht Der hohe Preis für den Ballett-Traum
08.02.2020, 11:40 Uhr
Die Ausbildung der künftigen Tänzer beginnt früh.
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Wer auf der Staatlichen Ballettschule in Berlin lernt, tut es für eine Tanzkarriere. Mit zehn Jahren werden Kinder aufgenommen und erleben dann Drill, zu lange Trainingstage, Bodyshaming, Magersucht. Inzwischen beschäftigt sich eine Kommission mit den Zuständen, die schon lange bekannt sind.
Ein normaler Schultag, der um 7.50 Uhr mit Fächern wie Deutsch, Englisch und Mathematik beginnt, mit Tanzunterricht und Proben bis in den Abend endet. Ein Schultag, der bis zu 13 Stunden dauern kann. Das soll dem RBB zufolge Alltag für etwa 300 Schülerinnen und Schüler zwischen 10 und 19 Jahren sein, die an der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet werden.

Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (r.) schaut sich 2017 den Chemieunterricht der Schule an.
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An der Eliteschule können Schülerinnen und Schüler die Berufsausbildung zum Bühnentänzer oder Artisten machen, aber auch Abitur und einen Bachelorabschluss. Sie alle haben nur einen einzigen Wunsch: einmal so gut zu sein wie Primaballerina Jutta Deutschland oder Balletttänzer Oliver Matz. Beide gehören zu Deutschlands bekanntesten Bühnentänzern und absolvierten ihre Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Das wollte auch Bea Müller* schaffen. "Tanzen war unser Leben, du arbeitest an deiner Disziplin und machst einfach alles, um mehr Rollen zu ergattern, um mehr Anerkennung zu bekommen."
Dass Bea Müller selbst Schülerin an der Staatlichen Ballettschule Berlin war, ist inzwischen zehn Jahre her. Als sie die Vorwürfe gegen ihre ehemalige Schule hört, ist sie froh, dass sich jetzt jemand kümmert. Denn obwohl für Müller Druck, Disziplin und hartes Training zur Ausbildung gehören, hat auch sie Situationen erlebt, an die sich sich nur ungern erinnert. "Wenn ich zwei, drei Kilo zugenommen hatte, haben mich die Lehrer ignoriert." Sie sei behandelt worden, als existiere sie nicht. Auch Nähe gab es dann nicht.
Wenn sie aber dünn war, bekam sie die Aufmerksamkeit, die sie sich wünschte. Dann habe sie sogar an der Mittelstange tanzen dürfen. Mit einer Größe von 1,65 Meter und einem Gewicht unter 40 Kilogramm, also einem BMI von unter 14 und somit stark untergewichtig, sei sie dann gut genug für die Mittelstange gewesen. Denn da durften die Besten tanzen. In "schlechten Zeiten" habe sie an die Außenstange gemusst. Noch heute überkomme sie manchmal das Gefühl, nicht gut genug zu sein - ohne Leistung nichts wert zu sein. Aber dieses Bild "vermitteln eben Ballettlehrer".
"Ich breche das Kind"

Die 350 Schülerinnen und Schüler trainieren in insgesamt neun Ballettsälen.
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Dieses Bild ist für Tanzmedizinerin Dr. Liane Simmel aus München absolut veraltet. Für sie wird es höchste Zeit, endlich einen Wechsel in der Gesellschaft zu erwirken und die alten Traditionen im professionellen Ballett anzupassen. Dr. Simmel behandelt professionelle Tänzerinnen und Tänzer, die unter dem hohen Druck der Tanzbranche leiden. Ihr zufolge haben viele Tanzpädagogen gar keine pädagogische Ausbildung und geben ihren Schützlingen einfach das weiter, was sie selbst gelernt haben.
Das größte Problem im klassischen Tanz sei die Idee: "Ich breche das Kind, damit ich es aufbauen kann." Die Ursprünge des klassischen Balletts liegen in Italien und Frankreich, geprägt wurde der Tanzsport aber vor allem auch durch russische Einflüsse. "Die raue Umgangsform von damals gilt auch heute noch." Im klassischen Ballett gehe es vor allem um Egozentrik und Ellbogen. Das habe nichts mit dem seelischen Wohl der Schülerinnen und Schüler zu tun, schätzt die Tanzmedizinerin ein. Inzwischen müsse es möglich sein, Menschenwürde mit Disziplin zu verbinden.
An der staatlichen Ballettschule Berlin sollen sowohl das seelische als auch das körperliche Wohl der Schülerinnen und Schüler gefährdet gewesen sein. Die Schule äußert sich nicht zu den Vorwürfen und verweist an die Senatsverwaltung. Der Senat hat daraufhin eine Kommission zur Aufarbeitung eingesetzt.
Bea Müller wollte die Beste sein
Vor zehn Jahren wurde den Schülerinnen und Schülern eine Ernährungsberaterin zur Seite gestellt, erzählt Müller heute. Deren Empfehlung lautete schlicht: kein Abendessen. Eine Gurke sei in Ordnung, wenn man ein, zwei Kilo verlieren wolle. Als Ballettschülerin folgerte Müller daraus: "Okay, dann bleibe ich heute zwei Stunden länger. Und okay, dann gehe ich heute noch drei Stunden joggen."
Müller war motiviert, wollte lernen, immer besser werden, um irgendwann die Beste zu sein. Doch nach der 10. Klasse hatte sie keine Kraft mehr. "Mir ging es einfach schlecht. Meine Mutter hat mich dann zur Ärztin gebracht." Müller wird in eine therapeutische Klinik für Essgestörte überwiesen und dort vier Monate lang behandelt. Zurück in die Ballettschule geht Bea Müller nicht mehr. Sie bricht ihre Ausbildung ab. Obwohl sie in der Zeit ihrer Ballettausbildung krank geworden ist, nimmt Müller aus der Zeit auch Positives mit: "Die Disziplin dort hat mich stark gemacht für die Zukunft."
Der Drill in Ballettschulen ist laut Dr. Simmel ein altbekanntes Thema, das über sehr lange Zeit totgeschwiegen worden sei: frühe und hohe Intensität im Leistungssport. Mit neun oder zehn Jahren trainieren die Schülerinnen und Schüler jeden Tag. "Das gibt es im Fußball auch, aber das Umfeld ist größer und man ist im Team", erklärt die Tanzmedizinerin. "Im Tanz sind wir zwar in der Gruppe, aber wir wollen als Einzelkämpfer trainieren."
Bea Müller arbeitet heute als Personal Trainer. "Ich erinnere ich mich an eine Lehrerin, die mir ein Brötchen gab. Sie sagte, dass ich gut auf mich aufpassen solle." Daran erinnert sich Müller noch heute. Sie selbst möchte Diziplin und Achtsamkeit weitergeben. Seitens der Lehrer und seitens der Schüler.
*Name von der Redaktion geändert
Quelle: ntv.de