Panorama

Vätergruppe in Neukölln "Manche haben Angst, dass sie ausgebürgert werden"

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Im Unruhestand: Kazim Erdogan an seinem Schreibtisch.

Im Unruhestand: Kazim Erdogan an seinem Schreibtisch.

(Foto: Marc Dimpfel)

Jede Woche trifft sich in Neukölln eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer. Kazim Erdogan hat sie gegründet. Er sagt, sie haben dort sogar schon Morde verhindert. Und er berichtet von Sorgen um den deutschen Pass.

Ein Rippenbruch plagt Kazim Erdogan, doch mehr als eine Woche Bettruhe hält er nicht aus. Auf dem Papier ist der 71-Jährige im Ruhestand, er nennt es Unruhestand. Zusätzlich zu seiner Arbeit beim Verein "Aufbruch" ist er seit ein paar Jahren Vorsitzender beim Beirat für Familienfragen, der berät den Berliner Senat. Ein Ehrenamt in Vollzeit plus Überstunden.

Berlin-Neukölln, Mittwochmittag, Erdogan sitzt im Vereinsraum von "Aufbruch" und bietet schwarzen Tee an. Am Abend wird sich hier seine Vätergruppe treffen, wie jeden Mittwoch. 20 bis 25 türkeistämmige Männer, das sind gerade so viele, wie Stühle an den Tisch passen. Dann sprechen sie über Familie, Behördenstress, Gefühle, Gewalt.

Die Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hat Erdogan im Jahr 2007, und die Gruppe hat ihn weit über Neukölln hinaus bekannt gemacht. Erst kam die Presse, dann das Fernsehen, ein Buch, 2012 verlieh ihm Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz. Bei aller Anerkennung schwang mitunter Irritation mit: Türkische Väter, die offen über ihre Gefühle sprechen, das passte nicht so recht ins Bild.

Woche der Vielfalt
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(Foto: RTL)

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"Paschas aus Anatolien"

"Männer mit türkischer Zuwanderungsgeschichte haben den schlechtesten Ruf: Sie sind Gewalttäter, Paschas aus Anatolien", sagt Erdogan. "Jahrzehntelang hat man immer über diese wunderbaren Menschen gesprochen, aber nie mit ihnen." Erdogan wollte das ändern. Jetzt, 2025, liegt ein Bundestagswahlkampf hinter Deutschland, in dem tagtäglich über Migration gesprochen wurde, im schlechtesten Sinne.

Frustriert ihn das? Die Frage erübrigt sich, hört man Erdogan zu. Er spricht sanft und in Sprichwörtern, die bei anderen wie Binsen wirken würden. Man müsse "viele kleine Brötchen backen", um Großes zu erreichen, sein Glas sei immer halb voll. Eine unbeirrbare Gelassenheit, beruhend auf einer Lebensphilosophie, die zur Erfolgsmethode geworden ist: radikale Kommunikation.

Als Erdogan 1974 nach West-Berlin kam, mit 21 Jahren, landete er nach sechs Monaten für ein langes Wochenende in Abschiebehaft. Die Türkei hatte den Pass nicht verlängert. Und ohne Pass keine polizeiliche Anmeldung und ohne Anmeldung kein Aufenthaltsstatus. Die Rettung brachte eine Prise Glück sowie ein Schreiben der Freien Universität Berlin, das ihn als Teilnehmer eines Deutschkurses auswies. "Der nette Beamte hatte Mitleid mit mir und hat mich aus der Abschiebehaft entlassen", erinnert sich Erdogan. Es folgten ein Studium der Psychologie und Soziologie, Jobs als Hauptschullehrer, Schulpsychologe und zuletzt beim Psychosozialen Dienst in Neukölln.

Und dazu immer die Arbeit bei "Aufbruch", einem Verein, der gegründet wurde, weil sich Jugendliche im Neukölln der 1990er-Jahre zu Banden zusammengeschlossen hatten und ihrer Perspektivlosigkeit mit Gewalt begegneten. Doch mit der Zeit verkümmerte Aufbruch zur "Karteileiche", erzählt Erdogan. Das änderte sich 2003, als er den Vorsitz übernahm.

Problembezirk Neukölln

Neukölln war damals der Inbegriff eines sogenannten Problembezirks. Der damalige Bürgermeister Heinz Buschkowsky erklärte Multikulti für gescheitert, die Rütli-Schule war in den Schlagzeilen, das Zusammenleben von Menschen aus 150 verschiedenen Nationen, viele mit arabischer und türkischer Einwanderungsgeschichte, wurde dargestellt als naives, unmögliches Unterfangen.

Die Rede war von Parallelgesellschaften. Auch Erdogan sah, wie der Behördenwust, die Sprachbarriere, die kulturellen Differenzen dafür sorgten, dass Menschen unter sich blieben. Bei "Aufbruch" wollten sie ein Gegengewicht schaffen, schufen eine Anlaufstelle mit Sozialberatung, organisierten Veranstaltungen für die Nachbarschaft. Und irgendwann ging Erdogan in die Cafés und Moscheen im Kiez und sprach die Männer an.

Mit der Vätergruppe entstand ein geschützter Raum, in dem Gefühle zugelassen, das eigene Verhalten und Umfeld reflektiert werden. Kritische Männlichkeit würde man heute wohl dazu sagen. "Wenn Männer von ihren Frauen verlassen werden, sind sie gekränkt. Und wenn die Enttäuschung und Verzweiflung die Oberhand gewinnt, dann ziehen sie sich zurück. Wir sagen dann: 'Hey Bruder, du darfst dich nicht zurückziehen.'"

Die Männer sollen lernen, ihre Probleme gewaltfrei zu lösen. "Erfolg ist für mich, wenn die Väter auf mich zukommen und sagen: 'Ich war aggressiv, ich war impulsiv. Jetzt gucke ich anders auf die Probleme'", sagt Erdogan. Acht Morde hätten sie so schon verhindern können. Und das Konzept machte Schule. In Berlin sind es inzwischen fünf Männergruppen, auf Türkisch und auf Deutsch, es gibt Ableger in Lörrach, Heilbronn, Bregenz.

Ängste und die AfD

Heute ist Neukölln anders als vor 15 Jahren. Probleme existieren noch immer, aber auch Kunstgalerien, Yoga-Studios und rasant steigende Mieten. Zu spüren bekommen das die Alteingesessenen, wenn ihre Wohnung unbezahlbar wird. Und sie spüren, dass sich die Stimmung verändert hat in den Wochen vor der Wahl.

"Es herrscht eine große Verunsicherung. Menschen, sogar mit deutschem Pass, kommen zu mir und haben Angst, dass sie wieder ausgebürgert werden", sagt Erdogan. Der ein oder andere aus der Gruppe wähle die AfD, weil er Zukunftssorgen habe. "Wir kämpfen seit Jahrzehnten für ein besseres Miteinander, und einige Politiker versuchen, das wieder zunichtezumachen."

Erdogans Antwort: Kommunikation, natürlich. Vor der Wahl besuchten die Neuköllner Kandidaten von SPD, Grünen und Linke den Verein auf Einladung, nur die Kandidatin der CDU hatte keine Zeit. Der Andrang sei riesig gewesen, ihr kleiner Gruppenraum proppenvoll. "Ich mische mich nicht ein, wer was wählen soll, aber ich will, dass die Menschen, die zu uns in den Verein kommen, von ihrem Informationsrecht Gebrauch machen können."

Erdogan selbst wurde im vergangenen Jahr von der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen, drei Stunden hätten sie miteinander gesprochen. Ob er sich da nicht instrumentalisieren lässt? "Hauptsache, man redet miteinander", sagt Erdogan. "Die haben zu mir gesagt: 'Hut ab vor Ihrer Leistung.' Und: 'Wenn wir von Ausländern reden, dann meinen wir nicht Sie.'"

Quelle: ntv.de

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