Panorama

Von Mutigen und Überforderten Umziehen? Oder gleich auswandern?

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Lara in Island - eine gute Entscheidung.

Lara in Island - eine gute Entscheidung.

(Foto: privat)

Manche träumen von einem Umzug in den Süden, andere haben ein Jobangebot in der Ferne. Die Entscheidung für einen Umzug fällt vielen nicht leicht, vor allem wenn man Freunde und Familie zurücklässt. Eine Expertin erklärt, was man bedenken sollte.

Mit 28 Jahren packt Lara O. aus Sachsen-Anhalt ihre Koffer und zieht in das bevölkerungsärmste Land Europas: Island. Die sogenannte Insel aus Feuer und Eis kennt sie bereits von zwei längeren Aufenthalten für einen Sommerjob. Aber sie sind nicht Grund genug für einen tatsächlichen Umzug. "Liebe auf den ersten Blick war es also nicht", bestätigt die Deutsche. Zumindest nicht mit dem Land selbst. "Ich habe Deutschland immer als meine Base gesehen, aber mit meinem isländischen Partner hat sich das geändert. Er war die treibende Kraft, die uns zurück nach Island gebracht hat, ich wäre mit ihm auch in Deutschland geblieben", so die 33-Jährige. Auf Instagram teilt sie Einblicke aus ihrem Leben als Auswanderin mit fast 50.000 Followern, darunter das faszinierende Panorama aus Gebirge und Vulkan.

Die größten Sorgen bereiteten Lara O. vor dem Umzug aber nicht etwa die Kultur- und Sprachunterschiede, sondern vor allem der Aufbau eines sozialen Netzes. "Ich hatte Sorge, kein Anschluss auf dem Land zu finden. Aber egal ob Island oder Deutschland - auf dem Dorf kann es schwieriger sein als in der Stadt. Hier muss man schon selbst aktiv werden, wenn man nicht vereinsamen will", sagt Lara. Diesen Gedanken haben auch Familien, die innerhalb Deutschlands von der Stadt aufs Land ziehen wollen oder sogar andersherum, wenn man die Anonymität der Großstadt fürchtet. Doch egal, ob es in eine andere Region, ein anderes Bundesland oder sogar auf einen anderen Kontinent geht - ein Umzug ist für viele ein einschneidendes Erlebnis, das manche lange überdenken und abwägen, während andere sich dank großer Visionen ins Abenteuer stürzen.

Der klassische Expat, gibt's den?

Laut Statistischem Bundesamt ziehen durchschnittlich etwa 25.000 Deutsche pro Tag um, noch sind es etwa vier bis fünf Umzüge im Leben eines Menschen. Doch die jüngere Generation zeigt, dass die Tendenz steigt. Am häufigsten ziehen Menschen zwischen 20 und 39 Jahren um. Wer offen für neue Erfahrungen ist, zieht häufiger wegen des Berufs um. Dank steigender Immobilienpreise in Ballungszentren, flexiblen Homeoffice-Regelungen und nicht zuletzt dem Fachkräftemangel werden Umzüge noch wahrscheinlicher. "Umzüge bringen Herausforderungen mit. Diese können sich aber ähneln, egal ob es von Hamburg nach Bayern geht oder von Deutschland in die Schweiz", erklärt Sarah Eisenacher.

Die promovierte Psychologin zog vor zwei Jahren in die US-amerikanische Stadt Atlanta und berät als Expat-Coachin Auswanderer und andere Menschen, die um die Welt ziehen. "Viele fühlen sich mit der Situation überfordert, obwohl der klassische Expat, also Auswanderer, für gewöhnlich schon viel erreicht hat. Ich helfe dabei, schwierige Emotionen im Ausland zu bewältigen und Entscheidungen zu treffen, die Zufriedenheit bringen", erklärt Eisenacher.

Denn egal, wie sehr man sich auf den Ortswechsel vorbereitet hat, irgendwann kommen immer Herausforderungen, die man so nicht erwartet hätte. Um die Probleme möglichst kleinzuhalten, empfiehlt die Psychologin nüchtern abzuwägen, ob der Umzug umsetzbar ist oder ob man bereits in der sogenannten Traumphase stagniert. Zu Beginn dieser Phase kommen viele Vor- und Nachteile auf, aus der anfänglichen Vision eines besseren, aufregenderen oder auch entschleunigten Lebens versucht man, ein realistisches Bild entstehen zu lassen.

Gerade durch das Hin und Her der Abwägungen oder der Überforderung, überhaupt eine Entscheidung zu treffen, entscheiden sich viele gegen den Ortswechsel - oder verschieben ihn auf unbestimmte Zeit. So heißt es dann irgendwann nicht mehr: "Ich wollte schon immer mal in Spanien leben", sondern: "Wäre ich als junger Mensch mal gegangen, aber jetzt habe ich Familie". Expertin Eisenacher rät, bereits in dieser Phase zu hinterfragen, ob man eigentlich über die nötigen Ressourcen verfügt, sowohl finanziell als auch charakterlich. "Grundsätzlich gilt, dass es als junger Mensch einfacher ist wegzugehen, weil man anpassungsfähiger ist und sich nicht sofort Gedanken um die Rente und Rentensysteme machen muss. Aber auch wer jung ist, sollte sich fragen, wie wichtig ihm oder ihr das eigene Bindungssystem ist." Denn je älter man wird, desto enger sind oft die Bindungen, auf die man sich verlässt. Wer mehrere Hunderte Kilometer wegzieht, bricht möglicherweise mit einem Netzwerk, von dem er abhängig ist. Aber auch Schuldgefühle können aufkommen, wenn man aufgrund der Entfernung Verpflichtungen gegenüber den Liebsten nicht mehr nachkommen kann.

Sich treu bleiben

Ein Jobangebot im Ausland dagegen bringt mehr Stabilität und Sicherheit - nicht nur für den einzelnen, sondern auch für mitkommende Paare und Familien. "Eine Jobzusage nimmt nicht nur den finanziellen Druck raus. Es kann auch helfen, mehr Struktur im Alltag und sozialen Anschluss zu finden, selbst wenn nur ein Partner einen Job hat. Wer Zeitdruck bei der Jobsuche hat, weil ihm nach wenigen Wochen das Geld ausgeht, steht vor einem weiteren Problem", erklärt Eisenacher. Die Psychologin empfiehlt je nach Land, für drei bis sechs Monate finanziell vorgesorgt zu haben, um das Ankommen möglichst leicht gestalten zu können.

Hilfreich sind dafür auch gewisse Charaktereigenschaften. Doch der perfekte Auswanderer muss nicht extrovertiert und draufgängerisch sein. Eher schüchterne Menschen können laut der Expat-Coachin womöglich mehr auf Eigenschaften wie Neugierde und Stressresilienz zurückgreifen, die ebenso wichtig sind für einen Ortswechsel. "Grundsätzlich muss man sich bewusst sein, dass sich Persönlichkeitsmerkmale, die einem eher im Weg stehen, bei Stress verstärken können. Bin ich ein sehr ängstlicher Mensch, kann sich dies an einem fremden Ort also noch deutlicher zeigen", sagt Eisenacher. Menschen im Zwiespalt sollten darauf achten, ihren Werten treu zu bleiben, insbesondere wenn es nicht ihr eigener Traum ist, sondern sie einem Partner folgen. Gibt man etwa den eigenen Job am Heimatort auf, macht man das nicht nur für den Partner, sondern auch für den eigenen Beziehungswert, der in diesem Moment schwerer wiegt als der Wert für Karriere.

Sobald man sich für den Umzug entschieden hat, tritt man von der Traum- in die Aktionsphase. Hier geht es vor allem um die nötigen Vorbereitungen, organisatorisch als auch emotional. Eisenacher rät, jedem Umziehenden die größtmögliche Kontrolle zu geben, damit auch Kinder das Gefühl eines Mitspracherechts haben. So können kleine Kinder mitentscheiden, welche Spielsachen sie mitnehmen wollen, und ältere Kinder können ihr neues Zimmer oder ihre neue Schule selbst aussuchen. Kleinen Kindern fällt es entgegen den Erwartungen oftmals leichter, sich anzupassen, erklärt die Expertin. Jugendlichen dagegen nimmt man ein Stück ihrer Selbstständigkeit, wenn man sie von ihrem gewohnten Umfeld trennt.

Auch wenn ein Partner einen anderen begleitet, sollte er an jeder Entscheidung, die beide betrifft, beteiligt werden. Wer enge Vertraute wie Eltern oder Großeltern zurücklässt, kann sie an den Gründen der Entscheidungen teilhaben lassen. "Es hilft ihnen klarzumachen, dass man die Entscheidung nicht gegen sie getroffen hat und man sich bewusst ist, dass es sie vielleicht verletzt, es aber dennoch gute Gründe für den Umzug gibt", sagt Eisenacher. Um die Bindung nicht ganz zu kappen, können Traditionen und Gewohnheiten umfunktioniert werden. So etwa wird das gemeinsame Sonntagsfrühstück künftig über Videotelefonie geteilt oder man besucht sich zu wichtigen Ereignissen.

Doch selbst, wenn man viel Zeit und Energie in die Kontakte zu Hause steckt, gibt es keine Garantie, dass sie einem erhalten bleiben. "Manche sind enttäuscht, dass die Menschen daheim nicht so an den neuen Erfahrungen teilhaben oder sie nicht zu Besuch kommen können oder wollen. Beziehungen können durch einen Ortswechsel immer weniger intensiv werden oder zerbrechen, darauf sollte man gefasst sein", sagt die Expertin. In der Aktionsphase haben manche das Gefühl, dass sie Ängste und Probleme nicht mehr richtig äußern können, denn schließlich habe man sich ja selbst für den Schritt entschieden. Doch darüber zu sprechen, kann helfen, die Ängste zu akzeptieren. "Akzeptanz spielt eine große Rolle für die Bewältigung von herausfordernden Emotionen. Man muss annehmen, dass es jetzt in diesem Moment so ist, die Zukunft kann aber wieder anders aussehen", tröstet die Psychologin. Fehlt im Umfeld das Verständnis für schwierige Situationen, hilft vielleicht ein Austausch mit Menschen, die bereits ähnliches erlebt haben.

Wenn der Arztbesuch zur Herausforderung wird

Doch egal, wie gut die Planungen sind, Herausforderungen wird es an jedem Ort geben, darauf sollte man gefasst sein. Oft würden Auswanderer den Alltag in einer neuen Sprache unterschätzen, auch wenn sie diese fließend sprechen. Kulturelle Missverständnisse oder nicht bekannte Untertöne erschweren die Kommunikation. Treten dann noch andere Krisen auf wie Heimweh oder Krankheit, kommen selbst leistungsfähige Personen an ihre Grenzen. Der Gang zum Arzt etwa ist dann nicht mehr etwas, das man im Heimatland ohne Nachdenken erledigt hat, sondern kann aufgrund anderer Sprache oder Strukturen zur echten Herausforderung werden. In einer solchen Krisensituation sind die eigenen Stressbewältigungsstrategien hilfreich. "Man sollte sich bewusst machen, was man schon alles gemeistert hat und wie man diese Erfahrungen auch an dem neuen Ort anwenden kann", erklärt Eisenacher. Ein positiver Blick in die Zukunft entsteht hauptsächlich durch die positive Formulierung der eigenen Ziele. "Ich will mehr Zeit für meine Kinder haben" oder: "Ich will mehr Sonne und Strand in meinem Alltag genießen" überzeugt vor dem Umzug deutlich mehr als negative Sätze wie: "Ich will weniger im Büro sein" oder: "Ich will den deutschen Winter nicht mehr ertragen müssen".

Ein Umzug oder ein Ortswechsel scheint für viele auch deswegen ein immens großer Schritt zu sein, weil ein vermeintliches Zurückkommen als Scheitern gilt. Auswandern klingt nach "für immer", aber selbst ein Umzug von der Stadt aufs Land beinhaltet in den Köpfen vieler keine Möglichkeit auf ein Zurück. Auswanderin Lara O. kennt dieses Gefühl, warnt jedoch vor falschen Annahmen: "Auch Auswandern muss nicht der letzte Schritt sein. Wenn man von Hamburg nach München zieht und wieder zurück, wird niemand von einem gescheiterten Umzug sprechen. Dasselbe gilt auch für das Ausland."

So ähnlich sieht es auch Psychologin Eisenacher: "Umziehen ist ein Prozess, man darf sich jederzeit umentscheiden. Die Angst vor dem Scheitern oder davor, die eigenen Erwartungen nicht zu erfüllen, lähmt oftmals nur." Betroffene sollten sich darüber bewusst werden, wie viele Menschen es auf der Welt gibt und wie wenige davon in eine andere Stadt oder ein anderes Land ziehen. Wer bereits im Umzugsprozess steckt oder schon am neuen Ort wohnt, könne sich darauf konzentrieren, wie man sich bereits weiterentwickelt hat und ob man sich nun sogar mehr zutraut. Sollte es tatsächlich zu der Entscheidung kommen, zurückzugehen, ist auch dies ein großer Schritt. Man bricht wieder mit etablierten Routinen, um ein besseres Leben zu führen. Aber lohnt es sich am Ende?

Psychologin Eisenacher untermalt den Grundsatz, es lieber versucht zu haben, als irgendwann etwas zu bereuen "Mit einem Umzug oder einer Auswanderung handelt man nach seinen Werten und trifft schwierige Entscheidungen. Damit wächst man persönlich sehr und stärkt seine Resilienz." Und auch Auswanderin Lara O. möchte mehr Menschen ermutigen, den Schritt zu wagen. Sie empfiehlt vor dem Umzug, eine längere Zeit am Wunschort zu verbringen und diese nicht nur als Urlaub zu sehen. "Im Urlaub entfallen viele alltäglichen Verpflichtungen, da kann man schnell mal ein verzerrtes Bild von der Realität bekommen. Letztendlich müssen wir aber auch in Island, Mallorca oder den USA kochen, unsere Wäsche waschen oder den Geschirrspüler ausräumen", sagt die Deutsche.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen