Panorama

Aufstieg der Lebensreformer Vegetarier und Anti-Patriarchen hatten um 1900 Hochkonjunktur

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Tanzende am Lago Maggiore bei Ascona (um Rudolf von Laban), 1914, fotografiert von Johann Adam Meisenbach.

Tanzende am Lago Maggiore bei Ascona (um Rudolf von Laban), 1914, fotografiert von Johann Adam Meisenbach.

(Foto: Erben Johann Adam Meisenbach)

Fitness-Trends, vegetarische Ernährung und Kampf gegen das Patriarchat - all das war vor 120 Jahren schon mal sehr modern. Sogar Dichterlegende Franz Kafka "müllerte" und "fletscherte", und er war längst nicht der Einzige.

"Unsere Welt ähnelt auf frappierende Weise der um 1900." Das ist die These einer neuen Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn. Darin geht es um die "Lebensreform"-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich heute zum Beispiel noch in der Bezeichnung "Reformhaus" wiederfindet. In Reformkolonien abseits der Städte probten damals viele junge Menschen den Ausstieg aus der kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaft. Im Mittelpunkt standen ein alternatives Leben, die Rückkehr zur Natur, aber auch Körperkultur und Gesundheit.

Heute bemühen sich viele Menschen um eine möglichst klimaverträgliche Lebensweise. Ähnliches gab es auch schon um 1900. Damals hießen das "Zurück zur Natur". Wegweisend war die Reformsiedlung Monte Verità im Tessin. Sie wurde zum Wallfahrtsort für Aussteiger, Pazifisten und Künstler, die dort in selbst gemachter Kleidung in "Lichtlufthütten" lebten.

Käthe Kruses Puppen standen für einen alternativen Lebensentwurf.

Käthe Kruses Puppen standen für einen alternativen Lebensentwurf.

(Foto: dpa)

Mit ihren langen Haaren und Bärten, Gewändern, Sandalen und Umhängetaschen nahmen die männlichen Mitglieder der hier lebenden Gemeinschaft das Aussehen der späteren Hippies vorweg. 1905 schuf Käthe Kruse auf dem Monte Verità die erste ihrer später weltberühmten Puppen. Sie war nicht einfach ein Spielzeug, sondern stand als "Reformpuppe" für einen alternativen Lebensentwurf.

Vegetarische Ernährung gegen das Patriarchat

Eine fleischlose Ernährung war für die Anhänger der Lebensreform-Bewegung sehr wichtig. Dabei ging es ähnlich wie heute sowohl um gesundheitliche Aspekte als auch um das Tierwohl. "Vegetarismus war aber auch ein politisches Statement", erläutert Robert Eikmeyer, Kurator der Ausstellung mit dem Titel "Para-Moderne". Männer hätten Fleisch in rauen Mengen verschlungen, und insofern sei eine pflanzliche Ernährung auch ein Statement gegen das Patriarchat gewesen.

Ein besonders kämpferischer Vegetarier war der als "Kohlrabi-Apostel" verspottete Maler Karl Wilhelm Diefenbach: "Der moralische, ethische Instinkt jedes feinfühligen Menschen sträubt sich dagegen, ein Lebewesen zu töten, um seinen Leichnam zu verzehren", erklärte er.

"Der Körper wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts deshalb so wichtig, weil man von der Unsterblichkeit der Seele auf die Unsterblichkeit des Körpers umschaltet", so Eikmeyer. "Es ist wie heute: Wir wollen alle lange leben. Alle diese Themen kommen wieder: Man isst morgens sein Müsli, macht Yoga, geht abends ins Fitness-Studio. Alles das findet sich damals auch schon."

So war der dänische Fitness-Guru J.P. Müller das große Trainingsvorbild der Männer, während die amerikanische Gymnastiklehrerin Bess Mensendieck zur Fitness-Queen der Frauen aufstieg. Beide waren so populär, dass die Verben "mensendiecken" und "müllern" zeitweise in die deutsche Sprache eingingen. Damit war gemeint, dass man nach ihren Grundsätzen trainierte. Dies tat auch der Schriftsteller Franz Kafka, der tägliche Leibesübungen nach Müllers Vorbild praktizierte. Zudem "fletscherte" er: Er kaute sein Essen besonders anhaltend, weil dies die Verdauung erleichtern sollte.

Voodoo-Kult und Schamanismus

Die Skulptur "Madame Blavatsky" (2007) von Goshka Macuga ist in der Ausstellung Para-Moderne.

Die Skulptur "Madame Blavatsky" (2007) von Goshka Macuga ist in der Ausstellung Para-Moderne.

(Foto: dpa)

Esoterik hatte um 1900 Hochkonjunktur, es war die große Zeit des Tischerückens. Ein Star der Szene war die Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891). In Kanada und den USA machte sich Blavatsky mit Schamanismus und Voodoo-Kult vertraut, startete sodann als Spiritistin durch und gründete die Theosophische Gesellschaft.

Später beriefen sich die Anhänger der New-Age-Bewegung auf sie. Die Bonner Ausstellung zeigt die Installation "Madame Blavatsky" von Goshka Macuga, die die Esoterikerin zwischen zwei Stühlen schweben lässt.

1917 eröffnet das erste vegane Restaurant

Fotografien zeigen William Pester.

Fotografien zeigen William Pester.

(Foto: dpa)

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog es rebellische Naturliebhaber wie Friedrich Wilhelm Pester aus der Nähe von Leipzig ins sonnige Kalifornien. Pester lebte dort als "Eremit von Palm Springs" in der Wüste, trug lange Haare und Bart, dazu Sandalen.

Ein anderer Einwanderer, Otto Heinrich Carque, eröffnete in Kalifornien Naturkostläden und propagierte die Idee des "Nacktsonnenbadens". Carque und weitere Deutsche warben zudem für eine fleischlose Ernährung, sodass 1917 das erste vegane Rohkost-Restaurant der USA mit Eintöpfen und Fruchtsäften öffnete.

In den 1950er-Jahren gab es in Kalifornien schon Cafés und Restaurants, die "organic food" und "back to nature" anpriesen. So fanden die Ideen der Lebensreform-Bewegung in den USA Verbreitung, wobei die Wurzeln bald nur noch wenigen bekannt waren. Und dann dauerte es nicht mehr lange, ehe all das im neuen Gewand der Hippie- und Flower-Power-Bewegung nach Europa zurückkehrte.

Die Ausstellung "Para-Moderne, Lebensreformen ab 1900" in der Bundeskunsthalle läuft vom 11. April bis zum 10. August 2025. Geöffnet dienstags 10.00 bis 18.00 Uhr, mittwochs bis 20.00 Uhr, donnerstags bis sonntags 10.00 bis 18.00 Uhr. Eintritt 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro.

Quelle: ntv.de, Christoph Driessen, dpa

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