Sichere Rückkehr möglich? Was hatte der Giftzug bei Unglück geladen?
14.02.2023, 12:10 Uhr
Das Unglücksgebiet vier Tage nach der Entgleisung.
(Foto: AP)
Die US-Ortschaft East Palestine entgeht Anfang Februar nur knapp einer Katastrophe. Ein Zug entgleist, giftige Stoffe geraten in Brand. Angeblich ist nun alles wieder in Ordnung. Doch die Einwohner der Stadt haben noch viele Fragen - und bekommen kaum Antworten darauf.
Fast zwei Wochen nachdem ein Zug mit hochgiftigen Chemikalien im Nordosten von Ohio entgleist und in Flammen aufgegangen war, zögern viele der evakuierten Bewohner des Ortes East Palestine mit der Rückkehr. Den Behörden zufolge war bei dem Unglück eine geringe Menge Vinylchlorid freigesetzt worden. Inzwischen sei es aber sicher, in die Stadt nordwestlich von Pittsburgh zurückzukehren. Die Luftqualität sei gut, die Wasserversorgung intakt.
Der Unglückszug war am 5. Februar unterwegs in den Nachbarstaat Pennsylvania, als 50 seiner insgesamt 140 Waggons in der Nähe von East Palestine entgleisten. Danach brach ein Feuer aus, dicke schwarze Rauchschwaden zogen über die Stadt. Zehn der Waggons waren mit Gefahrgut beladen, darunter fünf mit Vinylchlorid, wie die Verkehrssicherheitsbehörde NTSB mitteilte. Vinylchlorid wird vom US-Krebsinstitut als krebserregend eingestuft. Das Gas wird zur Herstellung von PVC-Kunststoffrohren verwendet, die häufig in Sanitäranlagen eingesetzt werden.
Verletzt wurde den Behörden zufolge niemand. Alle Bewohner in einem Umkreis von 1,6 Kilometern mussten jedoch ihre Häuser zu verlassen. Das betraf bis zu 2000 der etwa 4700 Einwohner des Ortes. Zudem wurde für die gesamte Stadt eine sogenannte Schutzraumanordnung erlassen. "Wir können nicht genug betonen, dass wir alle bitten, sich vom Ort des Geschehens fernzuhalten", schrieb der Ortsvorsteher auf Facebook zu diesem Zeitpunkt.
Was hatte der Zug geladen?
Inzwischen soll das nicht mehr nötig sein, die Einwohner hegen jedoch Zweifel, ob es wirklich wieder sicher ist. Eine Bewohnerin des Ortes berichtete der "Washington Post" von Kopfschmerzen und Übelkeit bei ihrer Familie, nachdem sie am Wochenende in ihrem Haus gewesen waren. In der Gegend herrsche ein stechender Geruch, der sie an eine Mischung aus Nagellackentferner und brennenden Reifen erinnert, berichtete Mara Todd. Sie habe nicht das Gefühl, dass sie genug Informationen habe, sagte die 44-Jährige, die sich mit ihrer Familie jetzt im Bundesstaat Kentucky aufhält.
Gefordert wird unter anderem, dass eine Liste mit allen Gütern veröffentlicht wird, die mit dem Zug transportiert wurden. Nach Angaben der Umweltschutzbehörde handelte es sich bei den wichtigsten Chemikalien neben Vinylchlorid um dessen Nebenprodukte Phosgen und Chlorwasserstoff, Butylacrylat und andere. Doch weder die Environmental Protection Agency EPA noch das National Transportation Safety Board NTSB haben eine vollständige Liste der in dem Zug befindlichen Chemikalien veröffentlicht. Solche Listen sind normalerweise Teil des Abschlussberichts nach ähnlichen Unglücken, die Monate später fertiggestellt werden.
Die Einwohner fürchten aber, dass es jetzt noch erhebliche Belastungen gibt. In einigen Gewässern waren tote Fische gesichtet worden, den zurückkehrenden Bewohnern war geraten worden, die Fenster zu öffnen, Ventilatoren einzuschalten und alle Oberflächen mit verdünntem Bleichmittel abzuwischen. Auch Experten zeigten sich unsicher, ob wirklich alle eventuellen chemischen Rückstände verschwunden sind. Die Tatsache, dass ein Reporter, der kritische Fragen gestellt hatte, eine Pressekonferenz verlassen musste, lässt viele zusätzlich zweifeln, dass alle Informationen öffentlich gemacht werden.
Film wird Realität
Der "New York Times" zufolge hatte die EPA bis zum 13. Februar die Luft in etwa 290 Häusern untersucht. Dabei sei kein Vinylchlorid oder Chlorwasserstoff festgestellt worden. Beide Stoffe können lebensbedrohliche Atemprobleme verursachen.
Einer der Evakuierten, Ben Ratner, erzählte dem Nachrichtensender CNN, dass er und einige Familienmitglieder 2022 Statisten in einer Verfilmung des Don DeLillo-Romans "White Noise" waren. In dieser Geschichte entgleist ein Zug und verschüttet Chemikalien, was zu einem "Luftvergiftungsereignis" führt, das die Evakuierung einer kleinen Universitätsstadt im Mittleren Westen erzwingt.
Inzwischen bot das Bahnunternehmen Norfolk Southern an, die Hotelkosten für Menschen zu übernehmen, die noch nicht zurückkehren wollen. Das Unternehmen, das den entgleisten Zug betrieb, muss auch für mögliche Sanierungskosten aufkommen, betonten die Behörden. Erste Klagen wurden bereits eingereicht, unter anderem wird Norfolk Southern vorgeworfen, die Einwohner der Stadt giftigen Substanzen und Dämpfen ausgesetzt zu haben.
Eric Whitining erzählte der "Washington Post", dass es an manchen Abenden wie in einem "überchlorierten Swimmingpool" rieche und seine Augen brennen. Er kehrte nach East Palestine zurück, nachdem die Behörden dazu aufgerufen hatten. "In einer kleinen Stadt müssen wir ihnen vertrauen, denn was können wir sonst tun?", sagte Whitining. "Wir müssen darauf vertrauen, dass sie uns nicht anlügen."
Quelle: ntv.de