Panorama

Therapieangebot in der Charité Wenn Teenager auf Kinder stehen

Dass sich auch Jugendliche von deutlich Jüngeren angezogen fühlen, ist bisher kaum thematisiert.

Dass sich auch Jugendliche von deutlich Jüngeren angezogen fühlen, ist bisher kaum thematisiert.

(Foto: picture alliance / dpa)

"Er träumt noch von Dinosauriern. Du träumst ständig von ihm." Wenn Teenager auf solche Sätze reagieren, brauchen sie vielleicht Hilfe. Denn sie fühlen sich sexuell zu Kindern hingezogen.

Die meisten betroffenen Teenager ahnen, dass etwas anders ist mit ihnen. Die Freunde schauen den Mädchen aus der Parallelklasse hinterher. Sie aber träumen in den ersten Sex-Fantasien von - Kindern. Mit wem können sie darüber reden? Die Berliner Charité macht Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren seit 2014 ein Angebot, das sie auch in sozialen Medien finden. "Wenn Du Dich von Kindern sexuell angezogen fühlst, findest Du bei uns Ärzte und Psychologen, die Dir zuhören. Unter Schweigepflicht", steht dort.

Drei Jahre später ist Projektleiter Klaus Beier glücklich über den Erfolg. Jugendliche kommen. Sie reden. Und sie lassen sich dabei helfen, ihre Neigung zu verstehen und zu kontrollieren. In Zahlen heißt das: In drei Jahren haben sich 134 Jungen aus ganz Deutschland an die Charité gewandt. Im Durchschnitt waren sie 15 Jahre alt, 12- und 13-Jährige waren nicht unter ihnen. "Rund ein Fünftel der Jungen hat das aus eigenem Antrieb gemacht", berichtet Beier. Die anderen kamen auf Wunsch von Eltern oder Erziehern. Es waren Jungen dabei, die schon bei Geschwistern oder Nachbarkindern ein auffälliges sexuelles Verhalten gezeigt oder sich Missbrauchsdarstellungen mit Kindern angeschaut hatten. Alle Teenager haben ein umfangreiches Testverfahren für die Diagnose durchlaufen.

"Rund die Hälfte zeigte eine klare Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema", sagt Beier. Von Pädophilie möchte er in diesem Alter noch nicht sprechen. Rund ein Drittel fühlte sich sexuell zu Kindern hingezogen - aber nicht ausschließlich. Auf rund ein Fünftel traf diese Neigung nicht zu - aber sie begingen trotzdem Übergriffe auf Kinder. Bei manchen Jugendlichen seien psychische Erkrankungen ins Gewicht gefallen, ergänzt Jugendpsychiater Tobias Hellenschmidt vom Berliner Vivantes-Klinikum im Friedrichshain, darunter Depressionen, Suchtstörungen und Autismus.

"Kein Täter werden"

Als 2005 an der Charité das Pilotprojekt "Kein Täter werden" startete, das sich an Erwachsene mit pädophilen Neigungen ohne laufende Strafverfahren richtet, gab es auch Unverständnis und Protest. Warum ausgerechnet den Tätern helfen? Wo bleibt der Opferschutz? Inzwischen hat sich auf politischer Ebene und bei vielen Institutionen die Erkenntnis vergrößert, dass Hilfe für Täter auch aktiver Kinderschutz sein kann. "Bei dem Pilotprojekt für Jugendliche gab es keine Anfeindungen mehr", berichtet Beier. "Kein Täter werden" gibt es inzwischen an elf Standorten in Deutschland.

Mehr als 7000 Männer haben sich dort bisher freiwillig gemeldet, weil sie die zentrale Frage "Lieben sie Kinder mehr, als ihnen lieb ist" für sich mit Ja beantwortet haben. Beier schätzt, dass rund ein Prozent der männlichen Bevölkerung genetisch bedingt pädophile Neigungen hat. Dafür könnten Männer nichts. Aber sie könnten lernen, ihre Sexualität so zu kontrollieren, dass kein Kind zu Schaden kommt - in Rollenspielen und zur Not auch mit Medikamenten. Das ist die Philosophie hinter dem Projekt, das unter anderem lange vom Bundesjustizministerium gefördert wurde.

Die Therapieerfahrung zeigt aber auch, dass pädophile Männer erst durchschnittlich mit 40 Jahren Hilfe suchen - mit ihrer Neigung aber seit dem Teenageralter leben, nicht selten in großen inneren Konflikten. Deshalb startete die Charité in Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der kommunalen Vivantes-Kliniken das Angebot für Jugendliche. Es geht darum, mögliche Täter früh zu erreichen. Das Bundesfamilienministerium förderte die Idee mit rund 200.000 Euro pro Jahr.

Die bisherigen Ergebnisse finden in der Praxis Anklang. "Das sind beeindruckende Daten", sagt Renate Schepker aus dem Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinikärzte. "Bisher gab es eine große Hilflosigkeit bei der Betreuung von Jugendlichen mit diesen Neigungen." Die große Frage sei aber, ob der Forschungs- und Versorgungsansatz auch in anderen Regionen funktioniere. "Wissenschaftlich bewiesen ist etwas erst, wenn es auch woanders funktioniert", sagt Schepker.

Eine Gesetzesänderung zum Beginn dieses Jahres könnte den Weg dafür frei machen. Es gibt ein Modellvorhaben, in dem die gesetzlichen Krankenkassen Therapien für Pädophile finanzieren können - auf Wunsch auch anonym. 2018 soll das nach Vorbereitungen möglich sein. Bis dahin fördert das Bundesfamilienministerium das Pilotprojekt an der Charité mit 200.000 Euro weiter. Staatssekretär Ralf Kleindiek hielt es für sinnvoll, die Therapien für Teenager danach unter anderem an die Standorte von "Kein Täter werden" anzudocken.

Quelle: ntv.de, Ulrike von Leszczynski, dpa

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