Panorama

Virologe rät zu Regional-Ansatz Wie viel Normalität geht wann?

Die bisherigen Regelungen gelten bis auf Weiteres.

Die bisherigen Regelungen gelten bis auf Weiteres.

(Foto: picture alliance/dpa)

Flatten the curve - das war das erklärte Ziel der massiven sozialen Einschränkungen. Und tatsächlich flacht die Kurve der Neuinfektionen mit dem Coronavirus ab. Allerdings ist schwer vorauszusagen, was passiert, wenn Schulen, Läden und Büros wieder öffnen.

Die Infektionszahlen mit dem Coronavirus sind in Deutschland nicht mehr ganz so hoch wie noch vor einigen Tagen. Nach mehreren Wochen Kontaktverbot und weitgehender Lahmlegung des öffentlichen Lebens flacht die Kurve tatsächlich ab. Gleichzeitig werden die Rufe nach einem Ende der strengen Einschränkungen lauter. Wie lange muss die soziale Distanzierung aufrechterhalten werden? Auf diese Frage suchen Ökonomen, Politiker und Wissenschaftler gleichermaßen eine Antwort.

Schmidt-Chanasit arbeitet am Hamburger Bernhard Nocht-Institut für Tropenmedizin.

Schmidt-Chanasit arbeitet am Hamburger Bernhard Nocht-Institut für Tropenmedizin.

(Foto: picture alliance / dpa)

Jonas Schmidt-Chanasit ist Virologe und überzeugt, dass es die eine weltweit gültige Lösung nicht geben wird. "Wir können gucken, was andere Länder machen, aber letztendlich gibt es zu viele spezifische Faktoren", sagt Schmidt-Chanasit ntv.de. Zu diesen Faktoren gehören die Art der Begrüßung, die vorhandenen Familienstrukturen und die damit verbundenen Sozialkontakte, die Einwohnerdichte, die Abhängigkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln - die Liste ist beinahe endlos.

Alena Buyx vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München hatte für die jetzige Phase die Begriffe "Hammer und Tanz" gewählt. Drastische Maßnahmen, also der "Hammer", dienen zunächst dazu, den Anstieg erheblich zu verlangsamen. Danach folgt mit "Tanz" die Phase, in der man schrittweise zu normaleren Verhaltensweisen zurückkehrt.

Pandemie-Level steuern

Mit jeder Lockerung der Maßnahmen sind neue Infektionsketten möglich, die sich allerdings nach Ansicht von Schmidt-Chanasit in ihrer Intensität deutlich unterscheiden. Denn welche Öffnungsmaßnahme welche Auswirkungen hat, ist schwer vorherzusagen. Deshalb bleibt nur die Möglichkeit, "sich schrittweise heranzutasten und dann zu schauen, wie sich die Zahlen entwickeln", so der Virologe. "Letztendlich ist es das Ziel, die Pandemie auf einem Level durchzumachen, auf dem die Infektion bei den meisten Menschen größtenteils unbemerkt verläuft."

Zeit ist bei der Seuchenbekämpfung ein wichtiger Faktor: Zum einen, weil neue Behandlungsmöglichkeiten für die vom Virus ausgelöste Krankheit Covid-19 erprobt oder entwickelt werden können. Außerdem wird in diesem Zeitfenster intensiv geforscht, wie sich der menschliche Körper selbst gegen das Virus wehrt, und wie sich dies verstärken oder für andere Erkrankte nutzen lässt. Zum anderen durchlaufen viele Menschen währenddessen die Infektion - erfahrungsgemäß häufig mit nur milden Symptomen. Sie sind danach für einen bestimmten Zeitraum wahrscheinlich immun und können dann vor allem in Risikobereichen eingesetzt werden.

Je mehr die Anzahl der Menschen zunimmt, die die Infektion durchgemacht haben, desto unwahrscheinlicher wird eine Überforderung des Gesundheitssystems durch zu viele schwer erkrankte Patienten gleichzeitig. Gerade lässt sich das Maß der Durchseuchung nicht seriös schätzen. Schmidt-Chanasit glaubt aber nicht, dass man mit Lockerungsmaßnahmen auf die immer wieder vorgerechneten 60 oder 70 Prozent warten muss. "Das fängt dann schon bei 20 oder 30 Prozent Durchseuchung an, dass man wieder ein bisschen mehr öffnen darf."

Die Oberhand behalten

Allerdings sei es eine Illusion, zu glauben, es werde deutschlandweit einheitliche Maßnahmen geben können. "Das kann man sich politisch wünschen, aber virologisch und epidemiologisch entspricht das nicht der Realität", so der Wissenschaftler. Schon jetzt ist die Verteilung der Ansteckungszahlen in Deutschland sehr unterschiedlich. In Bayern und Nordrhein-Westfalen gibt es regelrechte Hotspots, während manche Bundesländer kaum Infektionen und nur sehr wenige Todesfälle haben. "Aus virologischer Sicht wären regionale Lösungen das Beste", schätzt Schmidt-Chanasit ein.

In einem Landkreis kann man das Abitur machen, im anderen nicht. Hier ist die Schule offen, da ist die Kita geschlossen - diese Lösungen sind allerdings kaum vorstellbar. Außerdem müsste auch in dieser Situation weiter massiv getestet werden, vor allem in Krankenhäusern und Altenheimen. Das Mittel der Wahl wären dabei weiterhin die aufwendigen PCR-Tests, die allerdings zunehmend mit den neuentwickelten Antikörpertests kombiniert werden könnten. Auf dieser Grundlage könnte dann in einem Altenheim Personal, das noch nicht infiziert ist, bei den Senioren arbeiten, die die Infektion schon durchgemacht haben. Umgekehrt werden Pflegekräfte, die schon infiziert waren, bei den älteren Bewohnern eingesetzt, die negativ getestet werden. Diese Kreuzlösung böte maximale Sicherheit für die Risikogruppe der alten Menschen.

Gefährdete Personengruppen werde man über einen langen Zeitraum schützen müssen, meint Schmidt-Chanasit. Erzieherinnen oder Verkäuferinnen mit Vorerkrankungen seien vermutlich nicht so einsetzbar wie gesunde Kollegen. Auch wenn "Tanz" nach Leichtigkeit und Freude klingt, ist die neue Phase alles andere als leicht und fröhlich. "Es geht darum, es nicht einfach laufen zu lassen, sondern die Oberhand zu behalten und im Notfall auch wieder zu bremsen und gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen", betont der Virologe. Man dürfe die jetzt gewonnene Zeit und auch die Menschenleben nicht aus der Hand geben.

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen