Britische Zeitungen zum Brexit "Ärmeres und gemeineres Großbritannien"
24.06.2016, 13:18 Uhr
Die Schlagzeile der "Daily Mail": "We're out"
(Foto: AP)
Wie Großbritannien sind auch die britischen Zeitungen unterschiedlicher Meinung darüber, ob der Brexit nun Segen oder Fluch ist. In der Analyse der Ursachen für die Entscheidung herrscht allerdings ziemliche Einigkeit.
Die "Sun", die den Tag der Abstimmung zum "Independance Day", also zum Unabhängigkeitstag erklärt hatte, feiert den Brexit als Sieg der Arbeiterklasse. "Zum ersten Mal seit 43 Jahren wird unsere Nation auf eigenen Füßen stehen, frei von der Europäischen Union." Premier David Cameron habe die Wut von Millionen einfachen, arbeitenden Menschen zu spüren bekommen. "Die wohlhabenden Mittelschicht-Hausbesitzer in London lieben polnische Klempner und Putzfrauen. Für die arbeitende Bevölkerung bedeutet deren Zustrom jedoch niedrige Löhne, deren Höhe seit einem Jahrzehnt stagniert, während die Wohnkosten immer weiter steigen. Es bedeutet volle Schulen und Arztpraxen." Der Ausgang des Referendums sei deshalb ein Wutgeheul als Ausdruck der zunehmenden Hoffnungslosigkeit.
Der "Mirror" titelte am Morgen: "Wir sind raus". Auch der Kommentator des "Mirror" sieht die wachsende Entfremdung zwischen der Arbeiterklasse und der regierenden Labour-Partei als Ursache für die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen. Allerdings werden ausgerechnet die kleinen Leute am Ende den Preis für den Brexit bezahlen. "Das Ergebnis dieser suizidalen Entscheidung wird ein ärmeres, gemeineres und fieseres Großbritannien sein, mit Tory-Scharlatanen wie Boris Johnson und Michael Gove, die zu konservativer strenger Sparpolitik greifen werden, die keinen Raum für normale Familien lässt."
Neun von zehn Ökonomen hätten Großbritannien gewarnt, dass ein Brexit die Briten ärmer machen würde, stellt auch die "Times" fest. "Aber genau das haben sie gewählt." Die britische Arbeiterklasse habe dieses bedeutsame Referendum als Protestwahl behandelt, um ihre Wut über "Globalisierung, Einwanderung und Elitentum" auszudrücken. Allerdings seien es nicht die Gutsituierten, bei denen diese Entscheidung finanziell vor allem nachhallen wird. Europa mag "sklerotisch und dysfunktional" sein, aber Großbritannien sei ein "florierender Teil" davon gewesen. Nun brauche man eine funktionierende Beziehung zu Europa, und zwar schnell, so die "Times". Mit weniger ausländischem Geld und einem schwächeren Pfund werde das Leben in Großbritannien teurer. "Die Inflation wird steigen, die Löhne stagnieren, Arbeitsplätze werden verloren gehen." Und wie immer werden die Ärmsten der Gesellschaft am meisten darunter leiden, ist sich die "Times" sicher.
Jahrelange Nachwirkungen
Der Kommentator des "Guardian" vergleicht das Eintreten des Brexit mit der statistischen Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens und dessen tatsächlichem Stattfinden. Nun herrsche das verwirrende Gefühl, dass der Boden unter den eigenen Füßen heftig schlingere. Die Wähler hätten bei ihrer Entscheidung ebenso auf Brüssel wie auf das Londoner politische Establishment gezielt. Nun gelte es, den Schutt von dem wegzuräumen, was wir glaubten, über politische Treue zu wissen und darüber, welche Motive die Menschen in welche politischen Lager trieben." Das werde Monate, wenn nicht Jahre dauern. Hinzu kämen die mühsamen Verhandlungen, wie sich Großbritannien aus dem europäischen Finanz-, Rechts- und Handelssystem zurückziehen könne.
Der "Independent" rückt Premier David Cameron in das Zentrum seiner Überlegungen. Cameron habe das Land einen wollen, den Briten aber schließlich gezeigt, dass sie eine gespaltene Nation sind. Gespalten zwischen liberalen Gutverdienern und einer über die Einwanderung besorgten Arbeiterklassen, zwischen Schottland und England, zwischen London und dem Rest von England, zwischen jungen und älteren Wählern, gut und weniger gut ausgebildeten. Diese geteilte Nation sei nun Camerons Vermächtnis und eine große Herausforderung für jede neue Regierung.
Quelle: ntv.de, sba