Politik

Vor 30 Jahren Als die Ukraine ihre Atomwaffen dem späteren Feind gab

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Krawtschuk, Jelzin und Clinton am 14. Januar 1994 im Kreml.

Krawtschuk, Jelzin und Clinton am 14. Januar 1994 im Kreml.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Im Januar 1994 unterzeichneten die Präsidenten der USA, Russlands und der Ukraine einen Vertrag über den Abzug aller sowjetischen Atomwaffen aus der Ukraine. Das Land tauschte die Raketen gegen Sicherheitsgarantien, die sich als wertlos herausstellten.

Vor 30 Jahren war es ein historischer Tag: Am 14. Januar 1994 unterschrieben die Ukraine, Russland und die USA in Moskau eine trilaterale Erklärung zur Übergabe aller ehemaligen sowjetischen strategischen Atomwaffen an Russland. Bereits im Mai 1992 hatte die Ukraine ihre taktischen Atomwaffen an Moskau übergeben. Danach begannen die Verhandlungen zu den strategischen Atomwaffen. An denen hatte Washington ein besonderes Interesse, da diese von der Reichweite her die USA treffen konnten.

Die Einigung vom Januar 1994 öffnete den Weg für die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages im November durch die Ukraine, und schließlich wurde am 5. Dezember desselben Jahres das berühmt-berüchtigte Budapester Memorandum unterschrieben, in dem sich Kiew zur Übergabe der Atomwaffen verpflichtete - gegen Sicherheitsgarantien von den USA, Großbritannien und Russland und der US-Finanzhilfe für den Abbau der entsprechenden Infrastruktur.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfügte die Ukraine zunächst formell über den weltweit drittgrößten Bestand an Atomwaffen, nach den USA und Russland. So besaß Kiew beispielsweise 176 Interkontinentalraketen, die 1272 Atomsprengköpfe tragen konnten. Auch waren in der Ukraine ursprünglich 2500 Stück taktischer Atomwaffen stationiert. Der allerletzte Sprengkopf verließ das Land letztlich am 2. Juni 1996. Aus heutiger Sicht besonders bitter: Bis 2006 übergab die Ukraine an Russland auch einige strategische Bomber, die Atomwaffen tragen können - als eine Art Ausgleichszahlung für Gaslieferungen.

Heute wird die Abgabe der Atomwaffen als Fehler gesehen

Diese Bomber setzt Russland nun im Krieg gegen die Ukraine ein. Sie tragen die ungenauen Marschflugkörper Ch-22, die 2022 ein Einkaufszentrum in Krementschuk und 2023 ein Wohnhaus in Dnipro getroffen haben. In beiden Fällen gab es mehrere Dutzend Tote. Andere Bomber des Modells Tu22M3 wurden entweder vernichtet oder an Museen geschickt.

Ob es aus ukrainischer Sicht richtig war, die Atomwaffen abzugeben, wird in Kiew spätestens seit der Krim-Annexion 2014 diskutiert. Denn eigentlich hat sich auch Russland durch das Budapester Memorandum verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren, keinen Krieg gegen sie zu beginnen und sogar, sie im Falle einer externen Aggression zu schützen. Allerdings enthält das Dokument weder direkte Verpflichtungen zur militärischen Verteidigung der Ukraine noch einen vorgeschriebenen Mechanismus für Sanktionen, die gegen einen Angreifer verhängt werden sollen. Selbst die Einberufung von Konsultationen der teilnehmenden Parteien erwies sich nach 2014 in der Praxis als unmöglich. Konkret schreibt das Memorandum lediglich einen Appell an den UN-Sicherheitsrat vor, wenn Atomwaffen gegen die Ukraine eingesetzt werden.

Daher ist es in der Ukraine, aber auch darüber hinaus, eine weitverbreitete Auffassung, dass die Abgabe der Atomwaffen ein Fehler war. Eine andere Frage ist, ob die Ukraine anders handeln konnte. Aus politischen, technischen und wirtschaftlichen Gründen ist das mehr als unwahrscheinlich. Vor allem hatte die Eindämmung der Verbreitung von Atomwaffen für die USA die oberste Priorität - und die Clinton-Administration hielt Russland seinerzeit für einen deutlich stabileren Staat als die junge, chaotische ukrainische Demokratie. "Clinton sprach damals davon, dass Wirtschaftssanktionen verhängt würden, würde die Ukraine anders handeln. Konnte sich die erst geborene Ukraine leisten, sofort zu einer Bedrohung für die Welt und Europa zu werden?", beschrieb Leonid Krawtschuk, der erste Präsident der Ukraine, die damalige Lage.

Die Startsysteme waren in Russland

Technisch betrachtet war die Ukraine im Kern nur die Plattform für das Atomwaffenarsenal und kontrollierte es nicht. Theoretisch hätte Russland damals Interkontinentalraketen vom Territorium der Ukraine starten können, da sich alle Startsysteme in der Russischen Föderation befanden. "Alles, was ich konnte, war mit dem Kommandeur der russischen Raketenarmee zu telefonieren", erinnerte sich der im Mai 2022 verstorbene Krawtschuk, der im Januar 1994 die trilaterale Erklärung unterschrieb. "Die Atomwaffen lagen außerhalb der Kontrolle der Ukraine." Trotzdem sprach sich Leonid Kutschma, erst Premier und dann als Krawtschuks Nachfolger im Präsidentenamt Unterzeichner des Budapester Memorandums, zwischenzeitlich für den Erhalt von 46 interkontinentalen ballistischen Raketen aus, die den stärksten Teil der ukrainischen Atomwaffen darstellten.

Tatsächlich wäre aber der Erhalt der Atomwaffen für die Ukraine schlicht ein extrem teures Unterfangen gewesen. China beispielsweise hat ein siebenfach kleineres Atompotenzial als die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und gibt jährlich umgerechnet 12 Milliarden US-Dollar für dessen Instandhaltung aus. Das Geld hatte die Ukraine, die in den 1990ern eine massive Wirtschaftskrise erlebte, nicht. Zudem wäre 1997 die Haltbarkeit des Großteiles der sowjetischen Atomwaffen ausgelaufen. Die Kosten für deren Erneuerung wären enorm hoch gewesen.

Ob die Ukraine dagegen ein besseres Abkommen hätte verhandeln können, steht auf einem anderen Blatt und wäre wohl unter Umständen möglich gewesen. Allerdings darf als unwahrscheinlich gelten, dass ein besseres Dokument als das Budapester Memorandum den Lauf der Geschichte verändert hätte. Im derzeitigen Angriffsziel verfolgt Russland offiziell das Ziel einer neutralen Ukraine. Aber die Ukraine war neutral und hatte die Neutralität sogar in der Verfassung verankert, als Moskau 2014 die Krim annektierte und in den Donbass einrückte. Dass die Ukraine später das strategische Ziel einer Integration in EU und NATO in die Verfassung aufnahm, ist eine direkte und logische Folge der Aggression von 2014.

Zusagen aus Moskau sind wertlos

Mit der Krim-Annexion hat Russland aber nicht nur das Budapester Memorandum gebrochen. 2003, bereits unter der Präsidentschaft Putins, erkannte Moskau die Grenzen der Ukraine inklusive Krim endgültig an. Für den aktuellen Krieg bedeuten all diese Brüche vor allem, dass Zusagen aus Moskau wertlos sind. Es ist unvorstellbar, dass die Ukraine einen neutralen Status im Tausch gegen Sicherheitsgarantien akzeptieren könnte. Die einzig brauchbare Garantie für Kiew ist aus heutiger Sicht entweder eine NATO-Mitgliedschaft, möglicherweise mit Wirkung des Artikels 5 nur für das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet, oder vergleichbare Garantien der USA.

Beides würde kaum in der Absprache mit Moskau getroffen werden, sondern unabhängig davon. Wenn dies nach einem potenziellen Waffenstillstand aber nicht passiert, ist eine noch größere Militarisierung der Ukraine als bisher unausweichlich. Und auch die heute völlig absurd klingelnde Perspektive von ukrainischen Atomwaffen könnte dann irgendwann auf der Tagesordnung stehen, zumal das Land über eine starke Mineralbasis an Uranerzen verfügt.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen