Politik

Im Fall der Totalbetreuung Behinderte dürfen noch immer nicht wählen

Nicht jeder der über 18 Jahre alt ist und im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft darf wählen.

Nicht jeder der über 18 Jahre alt ist und im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft darf wählen.

(Foto: imago/Ralph Peters)

Menschen mit einer Behinderung, die dauerhaft voll betreut werden, dürfen in Deutschland bei der Bundestagswahl nicht ihre Stimme abgeben. Dabei könnte der pauschale Wahlausschluss eigentlich schon längst abgeschafft sein.

Pascal K. findet es mies, dass er in diesem Jahr wieder nicht an den Bundestagswahlen teilnehmen darf. Leicht wütend macht es ihn auch. Denn genau wie rund 85.000 andere Menschen in Deutschland wird er von diesem demokratischen Privileg durch ein Gesetz ausgeschlossen. Eine kleinere Gruppe darf nicht wählen, weil sie entweder in einer psychiatrischen Klinik sind oder im Zustand der Schuldunfähigkeit eine rechtswidrige Tat begangen haben.

In Deutschland verlieren aber auch Menschen ihr Wahlrecht, die wegen einer Behinderung eine sogenannte rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten benötigen. Zwei Drittel von ihnen haben eine geistige Behinderung, ein Drittel hat eine psychische Krankheit und ein kleinerer Teil leidet unter körperlichen Einschränkungen.

Dem 22-Jährigen Pascal K. ordnete das Amtsgericht Dortmund diese 2013 an. Der Dortmunder hat eine schwere Sprachstörung und wollte sich nicht von seinen Eltern betreuen lassen – seitdem hat er einen gesetzlichen Betreuer. Wie etwa 81.000 andere Menschen in Deutschland.

Möglich macht das Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes. Für Verena Bentele, Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung, ist es längst überfällig dieses Verfahren abzuschaffen. Sie fordert eine Überarbeitung des Betreuungsgesetzes. Anstatt Menschen mit Behinderung von vornherein die Möglichkeit der eigenen Meinungsbildung abzusprechen, drängt sie auf ein Konzept der unterstützenden Entscheidungsfindung.

Ausnahmen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein

"In meinen Augen können Menschen mit Behinderung sich durchaus eine Meinung bilden. Natürlich stellt sich immer die Frage, mit welcher Unterstützung jemand kommunikationsfähig ist und seine Meinung zum Ausdruck bringen kann", sagt Bentele im Gespräch mit n-tv.de. Aber auch die Gesellschaft müsse sich die Frage stellen: "Wollen wir Menschen mit Behinderung im Treffen ihrer Entscheidung etwa durch angepasste Materialien und Informationen in Leichter Sprache unterstützen oder trauen wir es ihnen nicht zu und schließen sie aus?", fragt die Bundesbeauftragte.

Den pauschalen Wahlausschluss von Menschen mit Totalbetreuung findet auch Gregor Rüberg, Leiter des Betreuungsvereins Lebenshilfe Dortmund e.V.,  absurd. Mit einem Interview-Film von Pascal K. will er deutlich machen: Auch Behinderte sind zu einer eigenen Entscheidung und Willensbildung in der Lage. Aus der Zusammenarbeit mit Pascal K., weiß er, dass der 22-Jährige die Unterschiede zwischen CDU, SPD, Grünen und Linken kennt und ihm auch Angela Merkel und Sigmar Gabriel ein Begriff sind. "Dass Pascal im Alltag durch einen Betreuer unterstützt wird, ist kein Hinweis darauf, dass er nicht in der Lage ist, eine politische Meinung zu entwickeln", sagt er n-tv.de

Die Behindertenbeauftragte Bentele war früher Biathletin und Skilangläuferin.

Die Behindertenbeauftragte Bentele war früher Biathletin und Skilangläuferin.

(Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/)

Bentele und Rüberg sind mit ihrer Kritik nicht allein. Den automatischen Entzug des Wahlrechts prangert auch der UN-Ausschuss zum Schutz der Menschen mit Behinderung an. Bereits zwei Bundesländer haben daraufhin ihre Gesetzgebung angepasst. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ist der Wahlrechtsausschluss abgeschafft worden. Hier dürfen Menschen mit Behinderungen auf Landesebene bereits wählen.

Deutschland hinkt hinterher

Dass das noch nicht auf Bundesebene möglich ist, ist ein Versäumnis der Großen Koalition. Bereits 2013 einigen sich die Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag, den pauschalen Wahlausschluss abzuschaffen. Sie wollten schon vor vier Jahren "rechtliche Hemmnisse bei der Ausübung des Wahlrechts für Analphabeten und Betreute" abbauen. Doch eine Reform blieb aus.

"Das Thema ist viel zu spät mit politischem Druck behandelt worden. Als die SPD dann einen entsprechenden Antrag eingebracht hat, hat die CDU/CSU-Fraktion diesem nicht zugestimmt", kritisiert Bentele. Das lag vor allem daran, dass die Koalition die Reform des Wahlrechts in einem Zug lösen wollte, sich in einigen Punkten aber nicht einig wurde. Der Wahlrechtsausschluss für Menschen mit Behinderung blieb damit gültig. Ob das auch in Zukunft so bleiben wird, will noch in diesem Jahr das Bundesverfassungsgericht klären.

Auch im europäischen Vergleich hinkt Deutschland hinterher. Bereits in vierzehn anderen Ländern der EU haben Menschen mit Behinderung das Recht auf politische Mitbestimmung. In Österreich, Italien, den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich sind vergleichbare Wahlrechtsausschlüsse schon länger aufgehoben.

"Eklatanter Verstoß gegen das Grundgesetz"

Kritiker einer Reform des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung warnen oft davor, dass damit eine Missbrauchsgefahr entstünde. In der Praxis könnte es schwierig sein sicherzustellen, dass das Wahlrecht von den Betroffenen persönlich ausgeübt wird. Als Argument für einen pauschalen Wahlrechtsausschuss will Rüberg das nicht gelten lassen. "Wahlmissbrauch ist schon heute möglich. Jede Briefwahl birgt ein Missbrauchsrisiko. Nämlich dann, wenn nicht der Wahlberechtigte selbst sie beantragt." So geschehe das bereits in Wohnheimen für Senioren mannigfach.

Am 24. September sind 61,5 Millionen Menschen wahlberechtigt. "Den Ausgang einer Wahl werden die 85.000 Ausgeschlossenen nicht beeinflussen, selbst wenn alle ihre Stimme einer Partei geben würden", sagt Rüberg. Ihm geht es auch um etwas anderes, er empfindet den Ausschluss als einen eklatanten Verstoß gegen das Grundgesetz. Das sieht Bentele ähnlich. Es sei der falsche Weg, Menschen mit Behinderungen durch pauschale Ausschlüsse zu bestrafen. "Die einzige richtige Entscheidung ist deswegen, den pauschalen Wahlrechtsausschuss zu streichen".

"Pascal ist richtig sauer über die Politik in Berlin", sagt Rüberg. Denn das Absurde ist: Im Mai diesen Jahres machte er sein Kreuz bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Bei der Bundestagswahl darf er aber nicht abstimmen.

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Quelle: ntv.de

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