Politik

"Das Land ist uns näher" Darum entbinden Tausende Russinnen in Argentinien

Die Russin Alla Prigolovkina mit ihrem neugeborenen Sohn Lev Andres in der Stadt Mendoza

Die Russin Alla Prigolovkina mit ihrem neugeborenen Sohn Lev Andres in der Stadt Mendoza

(Foto: AP)

Seit einem halben Jahr beobachten argentinische Behörden, wie täglich schwangere Russinnen einreisen und dann entbinden. Viele fliegen danach wieder weg. Ist eine Mafia am Werk? Die Justiz befasst sich damit, sogar die US-Behörden fragen nach. Manche der Frauen haben Angst.

Neujahr beginnt für Tatjana bewegt. Die 36-Jährige nimmt ihr Gepäck und ihre Katze, verlässt ihre große Eigentumswohnung im Zentrum von Moskau, fährt zum Flughafen, besteigt ein Flugzeug nach Istanbul und fliegt von dort weiter über Westafrika und den südlichen Atlantik hinweg bis nach Buenos Aires. Tatjana ist sichtbar schwanger. Als sie den Grenzbeamten am Flughafen ihren Pass zeigt, stehen weitere Russen in der Schlange, mit Kindern und Haustieren, danach holen sie Staubsauger, Fahrräder und sogar Kochtöpfe vom Gepäckband.

Tatjana heißt anders, will aber aus Angst vor möglichen Folgen anonym bleiben. Die Juristin ist nur eine von vielen Tausenden schwangeren Russinnen, die als Touristen zur Entbindung nach Buenos Aires eingereist sind. Im vergangenen Jahr waren es 10.777 Frauen und insgesamt 22.200 Russen, geben die Behörden an. Dieses Jahr werden es wohl wesentlich mehr. Allein im Januar kamen bereits über 4500 russische Frauen ins Land, das Vierfache des Januars vor Kriegsbeginn in der Ukraine. Auf den Straßen, in Parks und Cafés von Buenos Aires ist immer häufiger Russisch von jungen Familien zu hören.

Tatjanas Baby soll bald zur Welt kommen. "Wir waren vom ersten Tag an vehement gegen den Krieg", erklärt sie die Motivation der beiden, Monate später zu fliehen. Im Sommer 2022 wurde sie schwanger, am 21. September rief Putin die Teilmobilmachung für die Kämpfe in der Ukraine aus. "Innerhalb von drei Stunden trafen wir die Entscheidung, nach Argentinien zu fliegen", erzählt sie. Europa sei zu teuer gewesen. Ihr Mann, ein 31-jähriger Softwareentwickler in Ausbildung, reiste auf der Stelle aus. Sie kümmerte sich um die Papiere und folgte an Neujahr. "Wir wollten ein Baby ohne das Risiko bekommen, dass mein Mann eingezogen wird."

Am Jahrestag des Invasionsbeginns im fernen Europa gingen in Buenos Aires am 24. Februar Hunderte Menschen gegen den Krieg auf die Straße.

Am Jahrestag des Invasionsbeginns im fernen Europa gingen in Buenos Aires am 24. Februar Hunderte Menschen gegen den Krieg auf die Straße.

(Foto: AP)

Die beiden sind zwei von Hunderttausenden Russen, die seit der Teilmobilmachung ihre Heimat verlassen haben. Schon im Oktober sollen es bis zu 700.000 gewesen sein. In Argentinien haben manche öffentliche Krankenhäuser inzwischen Hinweisschilder auf Russisch aufgehängt. Sie sind Teil eines staatlichen Gesundheitssystems für die Bevölkerung, die nicht flächendeckend versichert ist und sich den Gang in private Kliniken nicht leisten kann. Niemand wird abgewiesen. Tatjana und ihr Mann wollen dies jedoch aus Prinzip nicht ausnutzen, sagen sie. Deshalb bezahlen sie einer Privatklinik mit englischsprachigem Arzt 4500 Dollar für Betreuung und Entbindung. Das Geld mussten sie zusammenkratzen.

Im Messenger Telegram gibt es eine Vielzahl von Gruppen, wo sich Interessierte auf Russisch über eine zukünftige Flucht oder ihr neues Leben austauschen. "Entbinden in Argentinien" heißt eine mit mehr als 5000 Mitgliedern. Darunter ist auch Tatjana. Sie ist in ein Einwanderungsland und ein historisches Ziel für Menschen aus Europa gekommen. Wer hier geboren wird, erhält auch die Staatsbürgerschaft. Eltern können eine ständige Aufenthaltsgenehmigung beantragen und danach selbst einen Pass bekommen, ohne ihren bisherigen aufgeben zu müssen. Doch bei einer Razzia im schicken Stadtteil Puerto Madero fanden Ermittler in einer Wohnung gefälschte ständige Aufenthaltsgenehmigungen. Damit sollten die Ausweise mutmaßlich erschlichen werden.

Verdacht auf mafiöse Vereinigungen

Als den Grenzbeamten am internationalen Flughafen von Buenos Aires im vergangenen Jahr die ungewöhnlich vielen schwangeren Russinnen aufgefallen waren, die ihnen ihren Pass reichten, fingen sie an, die Frauen systematisch zu befragen. In den über 350 Interviews erzählten einige, dass sie für Dolmetscher, Beistand in der Klinik, zukünftige Anträge auf die Aufenthaltsgenehmigung sowie Reisepässe bezahlten. Eine der Agenturen, die diese Dienstleistungen anbietet, heißt "RuArgentina". Sie wirbt mit einem Pinguin, der einem Storch gleich ein Säuglingstuch im Schnabel hält - samt argentinischem Reisepass. Ein einzelnes Beratungsgespräch gibt es ab 100 US-Dollar, die Rundumbetreuung "Erste Klasse" inklusive Aufenthaltsgenehmigung kostet mindestens 15.000 US-Dollar.

Maxim Levoshin und seine Frau Ekaterina Gordienko kamen im Dezember in die argentinische Hauptstadt. Ihren hier geborenen Sohn nannten sie Leo.

Maxim Levoshin und seine Frau Ekaterina Gordienko kamen im Dezember in die argentinische Hauptstadt. Ihren hier geborenen Sohn nannten sie Leo.

(Foto: AP)

Die meisten einreisenden Russen sind verheiratet und meist wohlhabende Berufstätige, die Telearbeit in der Finanz- und Digitalwirtschaft haben oder von ihren Ersparnissen leben. Aus der Einwanderungsbehörde heißt es, eine Schwangerschaft sei unerheblich dafür, ob jemandem als Tourist die Einreise gewährt werde. Es gibt auch kein spezielles Visum für den Fall, wenn eine Frau im Land entbinden möchte. Also winken die Beamten die Frauen wie alle anderen durch.

Die Behörde hat den Fall nun an die Justiz übertragen, die im Hintergrund wegen der Bildung mafiöser Vereinigungen ermittelt. Der Vorwurf: Es gehe einem großen Teil von ihnen um den Pass, nicht darum, im Land leben wollen. Die Behörden sorgen sich, dass das Dokument missbraucht wird und deshalb andere Staaten die Einreisemöglichkeiten für fast 46 Millionen Argentinier einschränken könnten. Die Agentur "RuArgentina" wirbt damit, dass Besitzer eines argentinischen Ausweises in 170 Ländern der Welt kein Reisevisum bräuchten. Der Inhaber wehrte sich bereits öffentlich gegen die Kritik: Er biete völlig legal einen Service an.

Von den 22.200 Russen des vergangenen Jahres sind viele wieder ausgereist, darunter 6400 Frauen. Nur 2400 beantragten eine Aufenthaltsgenehmigung. Viele versuchten stattdessen, direkt einen Pass zu bekommen. "Sie sind nicht an der Staatsbürgerschaft interessiert, um hier zu leben", sagt Florencia Carignano, Chefin der Einwanderungsbehörde: "Sie kommen, um Babys zu bekommen." Bislang haben offiziellen Angaben zufolge ein paar Dutzend der eingereisten Frauen eine permanente Aufenthaltsgenehmigung erhalten, keine einzige die Staatsbürgerschaft oder einen Reisepass.

Frust über Ermittlungen

Für eine der Übersetzerinnen, die schwangere Russinnen begleitet, ist es derzeit nicht einfach. Die gebürtige Russin lebte lange in der Ukraine und wanderte bereits vor Jahren nach Argentinien aus. Über ihre Arbeit will sie jedoch nicht sprechen, um jegliche Folgen auszuschließen. "Die Frauen haben Angst", begründet sie ihre Ablehnung: "Sie wollen nicht interviewt oder genannt werden." Das hat wohl auch mit der argentinischen Regierung zu tun, die sich wegen laufender Ermittlungen nicht dazu äußert, was nun wem drohen könnte.

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Das US-Ministerium für Heimatsicherheit hat sich inzwischen bei einem argentinischen Bundesgericht gemeldet, das im Fall ermittelt. Man sei an den Ergebnissen interessiert. Eigentümer eines argentinischen Passes können US-Aufenthaltsvisa für bis zu 10 Jahre erhalten. Die Anfrage aus den USA zeige die "Sorge" über die Vorgänge, hieß es aus der Spitze des argentinischen Justizministeriums. Das Department of Homeland Security glaube, dass es für die US-Einwanderungsbehörden wichtig werden könnte.

Tatjana und ihr Mann sind irritiert, zuweilen auch frustriert von der plötzlichen Aufmerksamkeit für sich und andere Russen. Sie wollen mindestens drei Jahre im Land bleiben: "Uns gefällt es hier sehr. Wir sind nie auf irgendwelche Feindseligkeiten gestoßen." Die beiden wollen einen Pass für ihr Kind und danach für sich die Staatsbürgerschaft beantragen. In einer Sprachschule haben sie bereits begonnen, Spanisch zu lernen. Sie hätten auch in die Türkei oder nach Südostasien gehen können. Aber hier, 13.500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, fühlen sie sich näher an Europa.

(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 26. Februar 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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