Politik

SPD und Nahles im Würgegriff Das schleichende Gift der GroKo

Merkel und Nahles im März im Bundestag.

Merkel und Nahles im März im Bundestag.

(Foto: picture alliance/dpa)

Andrea Nahles überzeugt ihre Partei vor zwei Jahren von einer weiteren Legislaturperiode in einer Großen Koalition. Das hängt ihr bis zum Tag ihres Rücktritts an. Ihr Weggang macht es für das Regierungsbündnis nicht leichter.

Zwischenzeitlich sah es so aus, als ob Andrea Nahles die Kritiker in den eigenen Reihen zurück ins Glied drängen kann. Doch die kritischen Stimmen verstummten nicht. Das einzige, was sie möglicherweise noch zurückhielt, war die Sorge, dass mit der Parteichefin auch die Große Koalition Vergangenheit sein könnte. Genau dieses Szenario hängt nun über dem politischen Berlin.

"Das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken", sagte Finanzminister Olaf Scholz nach dem Bekanntwerden von Nahles' Rückzug. In einem Interview mit dem "Tagesspiegel am Sonntag" hatte er zuvor eine Neuauflage der Großen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl ausgeschlossen. "Drei Große Koalitionen in Folge würden der Demokratie in Deutschland nicht guttun", so Scholz. Niemand wolle eine Fortsetzung der heutigen Koalition nach 2021, "nicht die Bürgerinnen und Bürger, nicht die Union - und wir Sozialdemokraten schon gar nicht".

Inzwischen wird Scholz wie einige andere Genossen als möglicher Nahles-Nachfolger gehandelt. Erfahrungen als kommissarischer SPD-Vorsitzender hat er ja bereits, als er nach dem Rücktritt von Martin Schulz die Zeit überbrückte, bis Nahles schließlich in das Amt gewählt wurde.

Das Murren über die eigene Rolle in der Großen Koalition war unter Sozialdemokraten immer zu hören. Viele sahen ihre Befürchtungen vom Winter 2017 bestätigt. Es war Nahles, die das Regierungsbündnis im Januar 2018 auf dem Sonderparteitag in Bonn geradezu herbeibrüllte, wie die "Süddeutsche Zeitung" erst am Samstag schrieb. Ursprünglich hatte sich die SPD nach der Bundestagswahl und den Erfahrungen aus der vorangegangenen Legislaturperiode für den Gang in die Opposition entschieden. Das sollte Zeit und Kapazität schaffen, das eigene Profil zu schärfen oder überhaupt wieder zu finden. In der Umarmung mit der Union waren sozialdemokratische Inhalte beinahe unsichtbar geworden, der Anteil an der Gesamtregierungsbilanz ließ sich nicht vermitteln.

Keine Antworten auf zentrale Fragen

Doch nach dem Scheitern von Jamaika im Bund und bereits wochenlangen Verhandlungen zwischen den verschiedenen Partnern ließ sich die SPD erneut auf die GroKo ein. Leidenschaftlich warb Nahles in Bonn um die Zustimmung der Delegierten und bekam sie dann auch. Vielleicht hoffte sie, sie könnte das Kunststück von Willy Brandt wiederholen. Der war 1969 gestärkt aus der Großen Koalition mit der Union hervorgegangen und schließlich Bundeskanzler geworden.

Diese Option war immer unwahrscheinlich, doch mittlerweile ist ein SPD-Bundeskanzler so gut wie ausgeschlossen. Trotzdem blieb Nahles eine Befürworterin des Bündnisses mit der Union und versuchte, die Regierungsleistung der SPD herauszustellen, wo immer das möglich schien. Gleichzeitig vollzog sie die längst überfällige Abkehr von den Hartz-IV-Reformen. Das Konzept, mit dem Gerhard Schröder die Reform des Arbeitsmarktes durchpeitschte, hat sich vor allem wegen der drastischen Sanktionen als langwirkendes Gift für die SPD erwiesen und viele Wähler der Partei entfremdet. Nahles setzte auf den "Sozialstaat 2025" und wollte die Grundsicherung durch ein "Bürgergeld" ersetzen, bei dem Empfänger in den ersten zwei Jahren praktisch keine Sanktionen fürchten müssen.

Den Niedergang ihrer Partei hat sie damit nicht aufhalten können, auch nicht mit dem "Gute-Kitas"-Gesetz, dem besseren Lohn für Paketboten oder der Rückkehr zur Parität bei den Sozialabgaben. Am Freitag hatte die stellvertretende SPD-Vorsitzende und Chefin der Bayern-SPD, Natascha Kohnen, betont, dass die Koalition nur Bestand haben könne, wenn Grundrente und Klimaschutz bis September beschlossen seien. Genau so segnete das zuvor der bayerische SPD-Landesvorstand und schickte damit ein deutliches Signal ins Berliner "Willy-Brandt-Haus".

"Das Ergebnis der Europawahl offenbart, dass die Große Koalition keine Mehrheit mehr hat", lautet die Begründung der Bayern-SPD. Die aktuelle Regierungspolitik werde abgelehnt, weil diese Regierungskonstellation für zentrale Fragen der Zeit keine Antworten liefere und nicht entschlossen handle. "Dafür trägt auch die SPD die Verantwortung."

Pest oder Cholera

Selbst langmütigen Verteidigern der GroKo, wie Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius, kamen inzwischen Zweifel. Er schilderte Teilnehmern zufolge in der SPD-Vorstandssitzung nach dem Wahlsonntag, wie die SPD in dieser Vernunft-Ehe zerrieben wird. Seine Befürchtung: Bald ist nichts mehr von den Sozialdemokraten übrig. Vor einer Woche schien es noch eine gute Idee zu sein, die mit der Union verabredete Halbzeitbilanz der Koalition vorzuziehen und das Bündnis dann erhobenen Hauptes zu verlassen.

Der frühere SPD-Vorsitzende und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz sprach sich hingegen unmittelbar vor dem Nahles-Rücktritt in der "Welt am Sonntag" dafür aus, die Große Koalition jetzt gerade fortzusetzen. Sein Argument: Kanzlerin Angela Merkel sei am Ende ihrer vierten und letzten Amtszeit "ausgebrannt". So ergebe sich für die Sozialdemokraten die Chance, jetzt "die Initiative zu ergreifen und weiterzukommen bei Mindestlohn, Digitalsteuer, Umweltpolitik und Handelsverträgen mit ambitionierten Klimazielen".

Die ausgebrannte Kanzlerin steht nun neben einer führungs- und wählerlosen SPD. Die wiederum kann ihr Heil nun im Bruch der Großen Koalition suchen oder erst recht im Festhalten daran. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Quelle: ntv.de

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