
Der NATO gehören neben den USA und Deutschland 28 weitere Staaten an.
(Foto: REUTERS)
Am Dienstag schlägt eine Rakete in einem grenznahen polnischen Dorf ein und tötet zwei Menschen. Die polnische Regierung ist alarmiert und ruft die NATO auf den Plan. Doch viele Fragen sind noch offen - und die Hürden bis zum Bündnisfall wären hoch.
Noch liegt vieles im Dunkeln, doch dass die polnische Regierung nach dem Raketeneinschlag in dem Dorf Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine ihre Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, zeigt: Die Situation ist brandgefährlich. Sollte sich trotz anderslautender Hinweise herausstellen, dass tatsächlich Russland für den Vorfall verantwortlich ist, könnte Polen als NATO-Mitglied den Bündnisfall einfordern. Allerdings würde dies nicht automatisch bedeuten, dass sich alle Bündnispartner an einem bewaffneten Konflikt beteiligen müssten. Der Weg zum Bündnisfall ist wesentlich komplexer.
Was ist der NATO-Bündnisfall?
In Artikel 5 des NATO-Vertrags steht wörtlich: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird." Bei einem bewaffneten Angriff auf ein Mitgliedsland leiste das Bündnis "in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand".
Wie wird der Bündnisfall ausgelöst?
Bevor überhaupt darüber diskutiert wird, ob ein Bündnisfall vorliegt, muss der betroffene Staat, in diesem Fall wäre das Polen, die NATO darüber in Kenntnis setzen, dass "die Unversehrtheit des [eigenen] Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die [eigene] Sicherheit bedroht ist". So ist es in Artikel 4 des NATO-Vertrags festgelegt, der gewissermaßen als Vorstufe zum Ernstfall zu verstehen ist. Daraus müssen aber nicht zwingend gemeinsame Schritte hervorgehen. Im bisher einzigen Bündnisfall der NATO-Geschichte, einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York, war es der damalige US-Präsident George W. Bush, der den NATO-Rat auf den nach seiner Auffassung vorliegenden Bündnisfall hinwies. Nachdem die Vereinigten Staaten aber erst am 2. Oktober Beweise dafür vorlegen konnten, dass Al-Qaida hinter dem Anschlag steckte, aktivierte der Rat am 4. Oktober die Beistandsklausel.
Welche Rolle hat der NATO-Rat?
Kein Mitgliedsland kann allein über den Bündnisfall entscheiden. Dazu ist allein der Nordatlantikrat befugt, in dem jedes Mitgliedsland des Bündnisses mit einem Sitz vertreten ist. Fordert ein Partner Unterstützung nach Artikel 5 ein, tritt der Rat möglichst schnell zusammen, um darüber zu beraten, ob die Voraussetzungen für den Bündnisfall erfüllt sind. Wird die Beistandsklausel aktiviert, kann der Rat einen Verteidigungsausschuss einrichten, der Empfehlungen "zur Durchführung von Artikel 5" abgibt.
Gibt es rechtliche Hürden?
Grundvoraussetzung für das Vorliegen des Bündnisfalls ist, dass es sich um einen bewaffneten Angriff aus dem Ausland handelt. Wie umfangreich der Angriff sein muss, ist nicht festgelegt. Während die Anschläge vom 11. September 2001 mit fast 3000 Toten nach Auffassung der NATO eindeutig über der Schwelle für einen bewaffneten Angriff lag, darf dies im jüngsten Fall bezweifelt werden - selbst wenn es sich um russische Geschosse handeln würde, die mit Absicht auf polnisches Staatsgebiet abgefeuert wurden. Und auch das wäre zunächst einmal zu beweisen. Dem Kölner Völkerrechtler Philipp Dürr zufolge müsste es sich schon um mehrere "kleine" Angriffe handeln, damit Polen von einem koordinierten militärischen Vorgehen und dementsprechend von einem bewaffneten Angriff sprechen könnte.
Kann der NATO-Rat auch seine Unterstützung verweigern?
"Fordern kann man vieles, recht hat man damit aber nicht", erklärt Dürr zum NATO-Bündnisfall. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass die NATO eher vorsichtig ist, wenn die Umstände für einen bewaffneten Angriff auf ein Mitgliedsland eher undurchsichtig sind. 2019 sorgte etwa die Möglichkeit einer Gegenoffensive infolge des türkischen Einmarschs in Nordsyrien für Sorge unter den NATO-Partnern, dass der türkische Präsident Erdogan in diesem Fall um Beistand bitten könnte. Allerdings wies der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags damals explizit darauf hin, dass bei der Entscheidung über einen Bündnisfall "Angriffs- und Verteidigungshandlung sauber zu unterscheiden" seien. Soll heißen: Wer in ein Nachbarland einmarschiert und bei Gegenwehr die NATO zur Hilfe zu ruft, darf nicht mit Unterstützung der Partnerstaaten rechnen.
Was passiert, wenn der Bündnisfall festgestellt wurde?
Der NATO-Vertrag lässt den Parteien reichlich Ermessensspielraum, welche Folgen die Feststellung des Bündnisfalls haben kann. In Artikel 5 heißt es lediglich, dass jede Partei "unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten". Was erforderlich ist, entscheidet demnach jeder Staat selbst. Eine automatische militärische Unterstützung - etwa die Entsendung von Truppen - sieht der Vertrag nicht vor.
Wann endet der Bündnisfall?
Ein zeitlicher Rahmen für Gegenmaßnahmen ist nicht festgelegt. Artikel 5 schreibt lediglich vor, dass die getroffenen Gegenmaßnahmen unverzüglich einzustellen sind, "sobald der UN-Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten". Mit anderen Worten: Der Bündnisfall endet, wenn der bewaffnete Angriff endet. Doch das birgt Fallstricke, wie der von den USA nach 9/11 ausgerufene "War on terror" zeigte - denn Terrorismus kann man schwer für beendet erklären.
Tatsächlich wurde der bisher einzige Bündnisfall vom 12. September 2001 formal nie wirklich aufgehoben. Der Einsatz der USA und ihrer NATO-Partner gegen das Terrornetzwerk Al-Kaida endete erst im Sommer 2021 mit dem chaotischen Abzug aus Afghanistan. Versuche, zumindest den deutschen Einsatz in Afghanistan zu beenden, gab es aber durchaus: 2002, 2012 und 2013 scheiterten entsprechende Anträge von den Linken und den Grünen im Bundestag. Theoretisch kann zwar auch der NATO-Rat den Bündnisfall aufheben, aber dazu müsste erst einmal Einigkeit unter den Partnern herrschen - und in dieser Frage war zumindest Deutschland 2001 recht deutlich. Laut damaligem Verteidigungsministerium ist die Ausrufung des Bündnisfalls ein "Ausdruck der Solidarität" und muss deshalb auch nicht formal beendet werden.
Quelle: ntv.de