Zwischen Lethargie und Aktionismus De Maizière kommt nicht aus der Defensive
22.09.2015, 12:08 Uhr
(Foto: REUTERS)
Von wegen zögerlich. Innenminister de Maizière ist in der Flüchtlingskrise in der vergangenen Woche vorangeprescht. Sogar eine "Vision" hat er präsentiert. Beim EU-Innenministertreffen droht ihm allerdings ein Rückschlag.
Innenminister Thomas de Maizière will jetzt wie ein echter Macher wirken. Nachdem er sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, die Flüchtlingskrise zu planlos und zögerlich anzugehen, lässt er es jetzt richtig krachen. Kühne Personalentscheidungen, radikale Gesetzentwürfe, ja, sogar eine "Vision" hat er parat. Und das alles innerhalb einer Woche. Aus der Defensive kommt der CDU-Politiker trotzdem nicht.
Am vergangenen Donnerstag drang ein Gesetzentwurf aus seinem Haus an die Öffentlichkeit. Neben bereits bekannte Maßnahmen wie einem stärkeren Schwerpunkt auf Sachleistungen, einem flexiblerem Baurecht für Flüchtlingsunterkünfte und weiteren "sicheren Herkunftstaaten" (Albanien, Kosovo, Montenegro) sah das Paket auch eine Überraschung vor. Sie betraf Flüchtlinge, die man vereinfachend als "Dublin-Fälle" bezeichnen könnte, Menschen also, die zwar in Deutschland angekommen, für deren Asylverfahren aber andere EU-Staaten verantwortlich sind, weil die Flüchtlinge dort zuerst europäischen Boden betreten haben. Diesen Menschen wollte de Maizière mit dem geplanten Gesetz den Anspruch auf Versorgung im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes entziehen. Sie sollten nur noch Reiseproviant und ein Zugticket bekommen.
Doch die Empörung war gewaltig. In Medien wurde de Maizière eine Orbánisierung der deutschen Flüchtlingspolitik vorgeworfen. Denn die Regelung hätte Tausende Menschen, die nicht abgeschoben werden wollen, in die Obdachlosigkeit getrieben. Menschenrechtsorganisationen, die Opposition, ja sogar der Koalitionspartner rebellierten. Nach der Ressortabstimmung verkündete de Maizière zwar, es habe eine "Einigung in allen Punkten" gegeben. Tatsächlich wurde die Dublin-Überraschung des Innenministers aber aus dem Text gestrichen.
Ein Affront gegen Merkel
Ebenfalls am Donnerstag trat der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Manfred Schmidt, aus "persönlichen Gründen" zurück. Das Amt schaffte es nicht, schnell neue Mitarbeiter anzustellen, um Asylanträge zu bearbeiten. Derzeit stauen sich dort mehr als eine Viertelmillion unbearbeitete Fälle. De Maizière verkündete am Freitag, wer Schmidts Nachfolger sein würde, der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise. Der soll das Problem nun lösen, indem er die beiden Behörden vernetzt und Personal flexibel in beiden Einrichtungen einsetzt. Das mag ein effektiver Schritt sein. Spott blieb de Maizière trotzdem nicht erspart. Denn Weise dürfte mit der Leitung der Riesenbehörde Arbeitsagentur kaum unterbeschäftigt sein. Von der Linken heißt es, das sei nun wirklich "alles andere als ein Halbtagsjob".
Noch deutlich radikaler als mit seinem Gesetzentwurf oder der Personalie Weise zeigte de Maizière sich in einem "Spiegel"-Interview. Er schlug ein Kontingent-Modell für Flüchtlinge vor. Die Europäische Union solle eine Obergrenze für die Aufnahme von Schutzsuchenden festschreiben und eine entsprechend beschränkte Zahl an Asylbewerbern gerecht auf die Mitgliedsländer verteilen. Bei einem ausgereizten Kontingent sollen die Flüchtlinge, so der Wunsch de Maizières, abgelehnt und zurück in ihre Herkunftsregion geschickt werden. Zwar will de Maizière die Staaten in der Herkunftsregion stärker finanziell unterstützen, doch das deutsche Grundrecht auf Asyl würde dieser Vorschlag dennoch aushöhlen. Zugleich stellt er einen Affront gegen die Kanzlerin dar. Angela Merkel hatte schließlich erst vor ein paar Tagen gesagt: "Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze".
Auf einem schmalen Grat
De Maizière nannte diesen Vorschlag seine "Vision". Die Chance auf Umsetzung ist allerdings denkbar klein - und das nicht nur, weil Kanzlerin Merkel sich bereits gegen derartige Lösungen ausgesprochen hat. An diesem Dienstag droht de Maizière ein Scheitern bei einer weitaus weniger visionären Reform.
Am Nachmittag trifft der CDU-Politiker sich mit seinen europäischen Amtskollegen. Sie sollen die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten per Quote festzurren - ein Notfallplan der EU-Kommission, den die Bundesregierung ausdrücklich unterstützt. Die vier Staaten der Visegrád-Gruppe allerdings, Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei, sperren sich dagegen.
Laut einem Bericht der Welt scheiterte in der Nacht bereits die vorbereitende Sitzung der Botschafter der 28 Mitgliedstaaten. De Maizière plädiert dafür, die widerspenstigen Staaten zur Not mit qualifizierter Mehrheit zu zwingen. Doch es wäre ein fatales Signal, wenn sich die EU in diesem Punkt nicht einigen kann. Und da derartige Zwangslösungen auch sonst auf europäischer Ebene nur in Ausnahmefällen vorkommen, ist eine Einigung auf eine verwässerte Regelung, in der womöglich nicht mal Quoten und Prozentzahlen vorkommen, ein denkbares Ergebnis. Mit einem "visionären" Schritt ist jedenfalls nicht zu rechnen. Über einen permanenten Verteilungsschlüssel, der auf die zeitlich befristete Notfallmaßnahme folgen könnte, wird laut der "Süddeutschen Zeitung" nicht einmal mehr ernsthaft debattiert.
Den Vorwurf, nichts zu tun, kann de Maiziere nach dieser Woche wohl niemand mehr ernsthaft machen. Jetzt muss er allerdings aufpassen, dass er seinen Kritikern keine neuen Angriffsflächen bietet. Der Grat zwischen beherztem Vorpreschen und Aktionismus ist schmal.
Quelle: ntv.de