Grenzschließung hat Folgen Der Domino-Effekt auf dem Balkan
21.01.2016, 21:33 Uhr
Bei Temperaturen deutlich unter null Grad laufen Flüchtlinge nördlich der serbisch-mazedonischen Grenze zu einem provisorischen Aufnahmelager.
(Foto: dpa)
Die Einführung einer Obergrenze für Flüchtlinge in Österreich führt zu Spannungen zwischen den Westbalkan-Staaten, befürchtet die Politologin Alida Vračić. Angesichts der Geschichte des Balkan wäre das "nicht hilfreich".
n-tv.de: Wie kommen die Länder auf dem westlichen Balkan selbst mit dem Zustrom der Flüchtlinge zurecht?

Alida Vračić ist arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und ist Leiterin des Think Tank Populari in Sarajevo.
(Foto: SWP)
Alida Vračić: Bislang haben die Westbalkan-Staaten die Aufgabe relativ gut bewältigt. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Staaten wirtschaftlich nicht in der Lage sind, eine so große Zahl von Flüchtlingen zu versorgen: Es fehlen die Infrastruktur, die Unterkünfte.
Österreich baut einen Zaun entlang der Grenze zu Slowenien und will die Zahl der Asylbewerber deckeln. Welche Folgen hätte es für die Staaten auf der sogenannten Balkan-Route, wenn die Flüchtlinge nicht mehr nach Österreich einreisen könnten?
Das würde zu einem Domino-Effekt auf dem westlichen Balkan führen, der nicht nur Österreichs Nachbarland Slowenien beträfe, sondern auch Kroatien, Serbien und Mazedonien. Jedes dieser Länder würde sofort ähnliche Maßnahmen ergreifen.
2015 gab es 90.000 Asylbewerber in Österreich. Die österreichische Regierung hatte gehofft, dass die Zahlen Anfang dieses Jahres sinken würden, aber so war es nicht. Täglich kommen zwei- bis dreitausend Flüchtlinge über die Balkan-Route nach Österreich. Bislang haben die österreichischen Behörden es nur geschafft, die Zahlen ein wenig zu drosseln, indem etwa Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea und einigen anderen Ländern nicht mehr den gleichen Rang wie syrische Flüchtlinge haben. Aber schon das gefährdet die nachbarschaftlichen Beziehungen der Westbalkan-Staaten.
Ein Argument, warum Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge weiter geöffnet halten müsse, ist die Befürchtung, die Staaten entlang der Balkan-Route könnten zusammenbrechen, wenn die Flüchtlinge nicht dort hängenbleiben. Ist das ein realistisches Szenario?
Bundeskanzlerin Merkel hat dieses Argument ein paar Mal benutzt. Und tatsächlich ist die Situation auf dem Westbalkan fragil: Keines dieser Länder hat die Kapazitäten, seine Grenzen wirklich zu schließen. Slowenien und Kroatien warten daher auf Signale aus Österreich und Deutschland. Wenn es das Signal geben sollte, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr nach Österreich oder Deutschland einreisen dürfen, dann werden diese Länder auf jeden Fall versuchen, auch ihre Grenzen zu schließen. Aber wie das dann passiert, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand. Sicher ist nur: Der Domino-Effekt, den ich beschrieben habe, würde zweifellos zu Spannungen führen, was angesichts der Geschichte des Balkan nicht hilfreich wäre.
Könnte das Flüchtlingsproblem zu Kriegen auf dem Balkan führen?
Das sehe ich nicht. Aber es könnte Konflikte und diplomatische Zwischenfälle geben. Wir sprechen hier über sehr kleine Gebiete, alles passiert mit einem Abstand von wenigen hundert Metern.
Was könnte die EU unternehmen, um die Westbalkan-Staaten zu unterstützen?
Es muss eine Lastenverteilung geben. Beschlossen ist so etwas schon, aber passiert ist bisher nichts.
Bleiben Flüchtlinge auch in den Westbalkan-Staaten und beantragen dort Asyl?
Nicht in signifikanten Größenordnungen. Allerdings gibt es Menschen, die in Kroatien feststecken – Afghanen befinden sich dort in einem juristischen Vakuum, weil es für sie keine Lösung gibt: Man kann sie nicht zurück nach Serbien schicken, aber sie dürfen auch nicht in Richtung Deutschland weiterreisen. Also warten sie ab.
Mazedonien baut mit Unterstützung der EU an einem Zaun an der Grenze zu Griechenland und lässt nur noch Syrer, Afghanen und Iraker einreisen. Kann das den Westbalkan-Staaten helfen?
Was eher helfen könnte, auch der Europäischen Union, wäre ein Fortschritt bei den deutsch-türkischen Verhandlungen. Die Türkei spielt eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise. Wenn es eine einfache Botschaft gibt, dann die: Schließt einen Deal mit der Türkei.
Mit Alida Vračić sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de