Schulz dreht nochmal auf Der Unermüdliche
22.09.2017, 21:50 Uhr
Selten war Martin Schulz so deutlich und klar, wie an diesem Abend auf dem Berliner Gendarmenmarkt.
(Foto: imago/Reiner Zensen)
Martin Schulz hat keine realistische Chance mehr Kanzler zu werden. Und doch präsentiert sich der SPD-Spitzenkandidat so kämpferisch und klar wie selten in diesem Wahlkampf. Wäre er öfter so aufgetreten, stünde die SPD vermutlich besser da.
Martin Schulz lächelt, die Augenbrauen scheinen fast über seiner Stirn zu schweben. Er schüttelt Hände, streichelt Kinderwangen, klopft Schultern, lässt Selfies machen. Die Menge jubelt, rote Fahnen wehen, der Himmel über dem Berliner Gendarmenmarkt ist blau und am Sonntag wird gewählt. Die Situation sprüht vor Optimismus. Es ist sein letzter großer Wahlkampfauftritt und sieht man den Spitzenkandidat der SPD so, könnte man denken, dass er sich auf Sonntag freut. Wäre da nicht dieser dunkle Schatten der erodierenden Umfragewerte.
"Gottkanzler", "Schulzzug", "der Zug, der keine Bremsen hat". Als Martin Schulz als Spitzenkandidat für die SPD nominiert wurde, schien er den orientierungslosen Sozialdemokraten neues Leben einzuhauchen. Der sympathische Kollege aus dem Europaparlament schien die Wähler schon allein wegen seiner Ausstrahlung zur SPD zu treiben. Der Zug hatte tatsächlich keine Bremsen: fast überholte die SPD die Union zwischenzeitlich in den Umfragen. Doch dann ging es nur noch bergab.
Oft schien es am Profil zu mangeln. Wofür stehen die Sozialdemokraten? Was ist das große Thema des Wahlkampfs der Sozialdemokraten? Martin Schulz hatte in der Vergangenheit zum Teil Schwierigkeiten, das klar zu artikulieren. Nicht heute. Das große Thema der SPD ist, was schon immer das große Thema der SPD war - soziale Gerechtigkeit. Was hätte seine Partei alles gegen Widerstände der Union durch den Bundestag gebracht: die Rente mit 63, die Ehe für alle, die Mietpreisbremse. Und was werde sie noch alles für Deutschland tun.
Der Neustart in der Pflege ist ein Thema, das Schulz spät so deutlich artikuliert hat, das er aber nun umso entschiedener versucht zu bewerben. "Der Pflegezustand in Deutschland ist ein Pflegenotstand", ruft er der Menge entgegen. Vergangene Woche habe er sich mit Alexander Jorde getroffen, dem hartnäckig nachfragenden Altenpfleger aus der ARD-Wahlarena. "Er hat mir erzählt, wie die Menschen in ihren Ausscheidungen liegen". Mehr Geld, mehr Personal, mehr Gerechtigkeit will er.
"Merkel lullt das Land ein"
So wie die Kanzlerin dem 21-jährigen Jorde in der Talkrunde begegnet sei, würde sie das ganze Problem behandeln: mit mangelnden Antworten und "Schlaftablettenpolitik". Eine zum vierten Mal von ihr angeführte Regierung werde eine Regierung der "sozialen Kälte" sein, der die Sorgen der Menschen egal sei. Merkel lulle das Land ein, dabei sei der Wettbewerb das Salz in der Suppe der Demokratie, ruft Schulz.
Die Renten will er anpacken mit einem neuen Generationenvertrag, mit "stabilen Renten und einem stabilen Renteneintrittsalter". Das duale Bildungssystem will er ausbauen, Schulen mit Wlan ausstatten. Er will sich dafür einsetzen, dass Studenten nicht mehr ihre Eltern nach einem Zuschuss für ihre Miete fragen müssen, dass in der Pflege gerechte Löhne gezahlt werden, dass Kitas gebührenfrei werden. Martin Schulz fährt das ganze Arsenal sozialdemokratischer Politik auf, um dann gegen all jene auszuteilen, die diese Ziele als "soziale Wohltaten" ansehen - aus seiner Sicht die Union. "Was ihr soziale Wohltaten nennt, ist der gerechte Anteil des Volkes" - Martin Schulz ist so klar und überzeugend, wie er zu selten war in diesem Wahlkampf.
Und er teilt weiter aus: gegen jene, die irgendwann begonnen hätten, ihn kleinzuschreiben. "Noch nie ist ein Mann mit Bart Bundeskanzler geworden", zitiert er die "Analysen in der Presse". "Er hat eine Brille, wie ein Kastengestell. Er kauft seine Anzüge von der Stange. Er hat den Charme eines Sparkassenangestellten, hat die Aura eines Eisenbahnschaffners", zählt er auf. "An mir geht das vorbei. Aber die Haltung, die dahintersteckt - was ist an einem Sparkassenangestellten oder einem Eisenbahnschaffner so verkehrt?" Und auch hier ist er überzeugend wie selten: "Ich bin einer von euch", lautet die Botschaft. Ohne dass er dafür sagen muss: "Berlin kenne ich sehr gut". Das hätte in der Hauptstadt ohnehin nicht funktioniert.
"Ich kämpfe nicht für Zahlen"
Und wie es sich für die SPD gehört, wettert er in der härtesten Rhetorik gegen die AfD: "Wenn diese rechtsextreme Partei in den Bundestag einzieht, wird dort wieder die Sprache der Totengräber der Demokratie gesprochen". Die Sozialdemokratie sei gegen Kräfte wie die AfD immer ein Bollwerk gewesen - schon in den 20er-Jahren. "Man muss sich diesen Unmenschen in den Weg stellen. Die Alternative für Deutschland ist keine Alternative, sie ist eine Schande".
Wären Martin Schulz mehr Auftritte wie dieser gelungen, stünde es in den Umfragen vermutlich besser. Doch der Mann ist unermüdlich und glaubt immer noch daran, Kanzler werden zu können. "Wollt ihr die Kanzlerin, oder einen, der sagt, was er will?" Hätte er öfter so klare Worte gefunden, das Profil der SPD so schärfen können wie heute, würden ihm vermutlich mehr Menschen abkaufen, das er weiß, was er will. Martin Schulz hatte keinen leichten Wahlkampf. Die irrationalen hohen Erwartungen, die an den "Gottkanzler" und den "Schulzzug" entstanden sind, waren kaum zu erfüllen. Doch er ist unermüdlich: "Ich kämpfe nicht für Zahlen der Meinungsforscher, ich kämpfe für unsere Überzeugung". Vielleicht behält er Recht: Gewählt wird am Sonntag und Wahlumfragen sind nicht immer richtig.
Quelle: ntv.de