20 Jahre an der Macht Die Ära Erdogan geht in die Verlängerung
28.05.2023, 22:43 Uhr Artikel anhören
Vom Reformer zum autoritären Machthaber: Istanbul am Wahlabend.
(Foto: REUTERS)
Eine Wirtschaftskrise macht Erdogan vor seiner Wiederwahl das Leben schwer. Die Opposition hätte die 20-jährige Ära des AKP-Chefs gerne beendet. Doch nun haben die Türken ihrem Langzeitpräsidenten eine weitere Amtszeit gewährt. Das sind die Stationen seiner Regentschaft.
Seit Republikgründer Atatürk hat niemand die Türkei so sehr geprägt wie er: Präsident Recep Tayyip Erdogan, der das Land seit 20 Jahren regiert - und sich in der Stichwahl am Sonntag nun eine weitere fünfjährige Amtszeit gesichert hat. Der religiös-konservative Amtsinhaber erhielt nach Auszählung fast aller Stimmzettel gut 52 Prozent der Stimmen, während sein sozialdemokratischer Herausforderer Kemal Kilicdaroglu auf knapp 48 Prozent kam.
Nachdem er in der ersten Wahlrunde zittern musste - Umfragen hatten Oppositionsführer Kilicdaroglu vorn gesehen - ging der 69-Jährige als Favorit in die Stichwahl. Er regiert das Land mit zunehmend harter Hand und steht deshalb im In- und Ausland in der Kritik. Die wichtigsten Stationen der Ära Erdogan:
Überwältigender Wahlsieg der AKP
Nur ein Jahr nach ihrer Gründung fährt die von Erdogan mitgegründete islamisch-konservative Partei AKP im November 2002 einen fulminanten Wahlsieg ein und erhält 363 von 550 Sitzen im Parlament. Die Wahl beendet die politische Instabilität im Land - und lässt im von der Armee unterstützten säkularen Establishment die Alarmglocken läuten. Im März 2003 wird AKP-Chef Erdogan zum Ministerpräsidenten gewählt.
Kurs auf die EU
Um im Oktober 2005 den Weg für Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei freizumachen, beschließt Ankara eine Reihe von Reformen, darunter die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung kurdischer Medien. Der Prozess der Annäherung an die EU gerät jedoch bald ins Stocken - mehrere Mitgliedstaaten äußern Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtslage und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.
Erdogan-Vertrauter Gül wird Präsident
Im August 2007 wählen die Abgeordneten Abdullah Gül zum Präsidenten, der die AKP gemeinsam mit Erdogan gegründet hatte. Erstmals übernimmt damit ein islamisch ausgerichteter Politiker das höchste Staatsamt. Die Opposition sieht die Abkehr vom Laizismus mit Sorge.
Trotz Massenprotesten wird Erdogan Präsident
2013 demonstrieren in Istanbul zehntausende Menschen gegen die Abholzung des Gezi-Parks. Die Sicherheitskräfte gehen brutal gegen die Teilnehmer vor, die Demonstrationen weiten sich rasch zu einem landesweiten Protest gegen Erdogan aus, dem ein zunehmend autoritärer Kurs vorgeworfen wird. Nach einem Monat ebben die Proteste ab, Erdogan wird im August 2014 mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Kurdenkonflikt flammt wieder auf
Die unter Erdogan angestoßenen Gespräche zur Beendigung des Konflikts mit den Kurden geraten in die Sackgasse. Im Juli 2015 kündigt die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) den Waffenstillstand mit der türkischen Armee auf, die Kämpfe - bei denen seit 1984 mehr als 40.000 Menschen ums Leben gekommen sind - flammen wieder auf.
Annäherung an Moskau
Der Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015 durch die türkische Luftwaffe über der Grenze zu Syrien belastet die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau schwer. Erdogan entschuldigt sich einige Monate später für den Vorfall und ermöglicht damit eine Annäherung an Moskau. Im Bürgerkrieg in Syrien unterstützt Russland allerdings Machthaber Baschar al-Assad, während die Türkei hinter oppositionellen, überwiegend islamistischen Gruppen steht. Auch führt die Türkei mehrere Militäroffensiven gegen die Kurden in Nord-Syrien.
Flüchtlingsdeal mit der EU
Nachdem 2015 vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien hunderttausende Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, schließen die Türkei und die EU im März 2016 ein Flüchtlingsabkommen. Ankara verpflichtet sich darin, Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug soll die Türkei näher an die EU heranrücken, was in der Folge wegen Erdogans autoritärem Kurs aber scheitert. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird wegen des Deals deutlich kritisiert.
Gescheiterter Putsch und "Säuberungen"
Im Juli 2016 kommt es in der Türkei zu einem Militärputsch, der rasch niedergeschlagen wird. Mehr als 250 Menschen werden nach offiziellen Angaben getötet. Erdogan macht den in den USA lebenden muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen verantwortlich und lässt zehntausende Menschen festnehmen. Mehr als 2500 Menschen werden zu lebenslanger Haft verurteilt. Zehntausende in Justiz, Militär und Medien werden entlassen.
Erdogan regiert per Präsidialsystem
Im Juni 2018 wird Erdogan bei der Präsidentschaftswahl mit 52,6 Prozent der Stimmen wiedergewählt . Das 2017 durch ein Referendum beschlossene, ganz auf ihn zugeschnittene Präsidialsystem gibt ihm weitreichende neue Befugnisse. Bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul und Ankara muss die AKP allerdings herbe Niederlagen einstecken.
Spannungen mit Washington
Nach dem Kauf eines Luftabwehrsystems von Russland verschlechtern sich 2019 die Beziehungen zwischen Ankara und Washington. Die USA verhängen im Dezember 2020 Sanktionen gegen den türkischen Verteidigungssektor.
Währungskrise und Rekordinflation
Statt im Kampf gegen die Inflation die Zinsen anzuheben, drängt Erdogan die türkische Zentralbank zu Zinssenkungen. Die Inflation erreicht im Oktober 2022 mit offiziell 85 Prozent den höchsten Stand seiner Regierungszeit. Durch den Verlust der Kaufkraft büßt die Regierungspartei massiv an Beliebtheit ein.
Erdogan vermittelt im Ukraine-Krieg
Die Türkei unterhält nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 gute Beziehungen zu beiden Kriegsparteien. Sie liefert Waffen in die Ukraine und baut zugleich den Handel mit Russland aus, das unter den westlichen Sanktionen leidet. Erdogan vermittelt auch erfolgreich ein Abkommen zu Getreideexporten zwischen der Ukraine und Russland - das wenige Tage nach der ersten Wahlrunde am 14. Mai noch einmal verlängert wird.
Quelle: ntv.de, mau/AFP