Politik

Harmlos oder gefährliche Killer? Die Kinder des IS sind zurück

Ein kleiner Junge betritt aus einer Chartermaschine heraus den Bereich der Bundespolizei am Flughafen Frankfurt (Archivbild vom  7. Oktober 2021).

Ein kleiner Junge betritt aus einer Chartermaschine heraus den Bereich der Bundespolizei am Flughafen Frankfurt (Archivbild vom 7. Oktober 2021).

(Foto: picture alliance/dpa)

Auch aus Deutschland waren Frauen nach Syrien gereist, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Mittlerweile kommen sie zurück und bringen ihre Kinder mit. Besteht Anlass zur Sorge, zur Furcht?

Der Junge hat eine geladene Waffe in der Hand. Vielleicht ist er acht, vielleicht zwölf Jahre alt. Er trägt eine grüne Tarnuniform und eine schwarze Mütze, sein Gesicht wirkt ernst. In dem dunklen Raum befinden sich, etwas im Hintergrund stehend, noch weitere Kinder. Vor dem Jungen kniet ein Mann. Sein Kopf ist leicht gesenkt, die Augen sind verbunden. Er trägt einen orangefarbenen Pullover. Und obwohl der Tod nur noch Sekunden entfernt ist, verharrt er in völliger Bewegungslosigkeit. Er bettelt nicht um sein Leben, er versucht nicht zu fliehen, weint nicht vor Verzweiflung. Er scheint in sich versunken, entrückt.

Dem Mann, der zwischen dreißig oder vierzig Jahre alt ist, wird die Augenbinde abgenommen, der Junge lädt seine Waffe durch, richtet sie von oben gegen den Kopf des Mannes und drückt ab. Sein Körper sackt schnell vorne über, Blut fließt, alles in Nahaufnahme. Der Junge verlässt dann mit den anderen den Raum, untermalt wird ihr Abgang von einem Nashid, einem religiösen A-Cappella-Gesang.

Diese kaum zu ertragende Hinrichtungsszene ist eine Sequenz aus einem Propagandavideo des sogenannten Islamischen Staates. Inszeniert wurde sie vermutlich zur Hochzeit des IS, irgendwann zwischen 2014 und 2017. Ob es tatsächlich eine echte Hinrichtung war, lässt sich nicht mehr klären. Die Bilder jedoch lassen nur wenig Zweifel aufkommen.

Auch aus Deutschland waren radikale Islamisten nach Syrien gereist, um sich dem IS anzuschließen. Mittlerweile kommen sie zurück: Ende letzten Jahres landete die bisher größte Gruppe von Rückkehrern, acht Frauen und 23 Kinder. Sie alle waren beim IS, die Mütter freiwillig, der Nachwuchs zwangsläufig. Doch wie gefährlich sind die Kinder des IS? Besteht Anlass zur Sorge, zur Furcht? Was geschieht jetzt mit ihnen? Das sind Fragen, mit denen sich unter anderen die Rückkehrkoordinatorin des Berliner Senats, Samira Benz, beschäftigt. Schon im Vorfeld hat sie die oft spärlichen Informationen zusammengetragen und Behörden und Institutionen an einem Tisch versammelt, die bei dem Thema eine Rolle spielen: Jugend - und Gesundheitsämter, Sicherheitsbehörden, das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Kitas und Schulen.

Einige Kinder haben Angst vor Männern mit dunklen Haaren und Bärten

"Bei den Kindern schauen wir zunächst einmal, wie der Gesundheitszustand ist", sagt Benz im Interview mit ntv. "Wir haben Kinder, die Bombensplitter in ihren Köpfen haben oder schnell medizinisch versorgt werden müssen. Und das auch teilweise schon am Flughafen. Aber manchmal wissen wir auch fast gar nichts über die Kinder und müssen dann vor Ort schnell handeln."

Gesundheitliche Probleme sind bei den Müttern schneller zu diagnostizieren. Ideologisch hingegen wird es schwieriger. Es gibt die vom IS desillusionierten, die so schnell wie möglich zurück in die Gesellschaft wollen. Aber es gibt auch die anderen, die noch immer, mal offen, mal insgeheim, dem IS verfallen sind. Und dann sind da die Unentschlossenen, die antriebs- und perspektivlos in Deutschland ankommen.

"Bei den Frauen erleben wir oft eine totale Unsicherheit und Hilflosigkeit. Sie haben keine Vorstellung, was jetzt passiert. Kommen sie in Untersuchungshaft, werden sie festgenommen, in welches Bundesland kommen sie, wie werden die nächsten Schritte sein, werden sie überhaupt wieder Anschluss an diese Gesellschaft finden?", sagt Thomas Mücke vom Violence Prevention Network (VPN), ein Mann mit jahrelanger Expertise in der Resozialisierung von Extremisten.

Die Kinder sind die verlorenen Seelen. Sie kommen in ein Land, dass ihre Eltern gehasst haben, ein Land, dass sie kaum oder gar nicht kennen. Ihre Väter sind entweder gestorben oder in Haft, und was mit ihren Müttern geschieht, ist unklar. Zudem sind viele in ihrer Entwicklung verlangsamt. Sie sind Opfer des Krieges ihrer Eltern. "Was wir bei den Kindern beobachten, die zurückkommen, sind zum Beispiel Depressionen, Schlaflosigkeit, viele haben Albträume oder Bettnässen. Andere Kinder haben Zwänge. Ein Kind dreht den Wasserhahn immer auf und zu", so Samira Benz. Und noch etwas bereitet ihr Sorgen. "Bei einigen Kindern ist auffällig, dass sie Angst vor männlichen Personen haben, Männern mit dunklen Haaren und Bärten."

"Wenn wir offen zu diesen Kindern sind, mache ich mir um die keine Sorgen"

Die Kinder des IS, die nicht medizinisch stationär versorgt werden müssen, können bei der Mutter bleiben. Sollte diese aber in Untersuchungshaft müssen, dann suchen Rückkehrkoordinatorinnen wie Samira Benz im Umfeld der Kinder eine Bleibe. Dort wird zunächst geprüft, ob Oma, Opa, Onkel oder Tante willens und in der Lage sind, die neue Situation zu meistern. "Das Jugendamt überprüft die häuslichen Gegebenheiten - ob die Wohnung genügend Zimmer hat, ob sie kinderfreundlich ist, ob der Großvater oder Großmutter ein bestimmtes Alter haben, wo sie Kinder noch aufnehmen können", skizziert Benz die Anforderungen.

Thomas Mücke hat viele Radikalisierte auf ihrem Weg zurück in die Normalität begleitet. Und er weiß, dass die Kinder in der Regel keine umfangreichen Deradikalisierungsprogramme benötigen. "Es spielt eine sehr große Rolle, dass Kinder dann hier in einem Umfeld sind, wo ihre Grundbedürfnisse wieder befriedigt werden. Nach Sicherheit, dass ein Grundvertrauen wieder möglich ist, dass man sie wahrnimmt, dass sie ihre Persönlichkeit wieder frei entfalten können. Wenn wir offen zu diesen Kindern sind, dann mache ich mir um die keine Sorgen", so Mücke.

Ganz reibungslos ist der Prozess der Wiedereingliederung der Kinder aber nicht, denn auch Kitas und Schulen haben Sorge, wer denn nun in ihre heile Welt eindringt. "Wir kennen es auch, dass die Kinder des IS in der Kita oder Schule andere Kinder mobben. Die sagen dann zum Beispiel, 'ich war beim IS, du aber nicht, Ätsch'. Natürlich wissen die Kinder nicht, was das Böse daran war", sagt Samira Benz. Insgesamt verläuft der Weg zurück in den schulischen Alltag aber eher unauffällig.

Ein Restrisiko bleibt

Gegen sechs Frauen, die zuletzt in Frankfurt landeten, lagen Haftbefehle vor. Egal ob sie sich in U-Haft befinden oder auf freiem Fuß sind, bei der Rückkehr in ein normales Leben können sie auf ein Netzwerk von Deradikalisierungsprogrammen wie das des VPN zugreifen. "Im Prozess mit der Mutter müssen wir dann schauen, was dazu geführt hat, dass sie in die radikale Szene abgerutscht sind. Das sind ja selten ideologische Gründe gewesen. Da ist in der Regel irgendetwas im Leben schief gegangen", erläutert Mücke. "All das müssen die Personen für sich jetzt erkennen."

Ein weiteres Problem: Die Stellen oder Projektgelder der Rückkehrkoordinatoren sind oft befristet. Bei solchen Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass erfahrene Mitarbeiterinnen langfristig lieber unbefristete Angebote annehmen. Dann müssen wieder neue Kollegen gesucht und eingearbeitet werden.

Aus der Forschung mit Kindersoldaten in Afrika ist bereits einiges über radikalisierte Heranwachsende bekannt. So können auch Kinder schwerste Verbrechen begehen, zum Beispiel um in ihrer militanten Gruppe akzeptiert zu werden. Und es gibt tatsächlich auch die, die danach nicht von Gewissensbissen geplagt werden. Andere hingegen zerbrechen an ihren Taten oder brauchen viel Hilfe, um zurück ins Leben zu finden. Werden aber beide Charaktere Teil eines erprobten Resozialisierungsprogramms, dann sind die Chancen, dass sie ihren Weg abseits von Gewalt finden und gehen werden, sehr gut.

In Belgien ist die Zahl der rückfällig gewordenen ehemaligen Dschihadisten beeindruckend niedrig. 95 Prozent der Deradikalisierungsmaßnahmen seien erfolgreich verlaufen, so das belgische Innenministerium. Die Zahl lässt hoffen. Sie zeigt aber auch, dass ein Restrisiko bleibt.

Quelle: ntv.de

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