Palermos Cosa Nostra Die Mafia ist zurück in der Politik
18.06.2022, 11:10 Uhr
Barock-Fassaden zieren den Corso Vittorio Emanuele in Palermo.
(Foto: imago images/Peter Eastland)
Fragwürdige Unterstützer haben dem neuen Bürgermeister von Palermo zum Sieg verholfen. Dass die Stadt wieder der Mafia erliegen könne, bezweifeln Experten. Trotzdem gibt es Anzeichen, dass die Antimafia-Rhetorik nicht mehr greift.
Mit den Bürgermeisterwahlen am vergangenen Sonntag ist in Palermo eine Ära zu Ende gegangen. Nach 22 Jahren im Amt verabschiedet sich der linksliberale Bürgermeister Leoluca Orlando. Auf den mittlerweile 74-Jährigen folgt der vom Mitte-Rechts-Lager unterstützte Roberto Lagalla, ein Medizinprofessor und ehemaliger Rektor der Universität Palermo. Der Sieg des 67-Jährigen wird eine Frage auf: Kommt die Mafia wieder aus der Deckung und wird sie sich wie einst wieder unverfroren in die Politik einmischen? Unter Lagallas Unterstützern waren nämlich auch zwei fragwürdige Figuren.
Dass Lagalla selbst unbescholten ist und mit der Cosa Nostra nie etwas zu tun hatte, bezeugen auch seine politischen Gegner. Umso erstaunlicher erschien vielen, dass er die Unterstützung von Salvatore "Totò" Cuffaro und Marcello Dell'Utri nicht abgelehnt hat. Cuffaro war von 2001 bis 2008 Präsident der Region Sizilien, Dell'Utri war Mitbegründer der Berlusconi-Partei Forza Italia. Beide wurden wegen Komplizenschaft mit der Mafia zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, eine Strafe, die sie mittlerweile abgesessen haben.
"Bin ich mächtig, seid ihr es auch"
Solche Bedenken haben sich kurz vor dem Wahlsonntag durch die Festnahme zweier Stadtratskandidaten wegen Machenschaften mit Cosa Nostra verstärkt. Der eine zählt zu Forza Italia, der andere gehört Giorgia Melonis rechter Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) an. Beide sollen Mafiabosse um ihre Stimmen gebeten haben. "Bin ich mächtig, seid ihr es auch", sagt der Forza-Politiker Pietro Polizzi zu Agostino Sansone in einem von den Ermittlern abgehörten Gespräch. Sansone ist der Bruder von Giuseppe und Gaetano Sansone, Bauunternehmer mit einst engen Kontakten zu Totò Riina, einer der blutrünstigsten Mafiabosse überhaupt. Riina war es, der im Sommer 1992 die zwei Attentate anordnete, bei denen die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ums Leben kamen. Die Sansone-Brüder hatten Riina eine Villa in Palermo zur Verfügung gestellt, in der dieser 25 Jahre lang unbehelligt lebte, obwohl nach ihm gefahndet wurde.
"Natürlich hab ich ein ungutes Gefühl, was den Ausgang der Wahlen in Palermo betrifft", sagt der Hochschullehrer Nando Dalla Chiesa im Gespräch mit ntv.de. "Aber nicht wegen Lagalla, sondern wegen einiger seiner Unterstützer." Diese seien kein gutes Omen. Dalla Chiesa hat an der Uni Mailand einen Lehrstuhl für die "Soziologie der organisierten Kriminalität" und ist Begründer der Mafia-Beobachtungsstelle. Er ist aber auch der Sohn des Carabinieri-Generals Carlo Alberto Dalla Chiesa. Ihn schickte die italienische Regierung seinerzeit in die sizilianische Hauptstadt, um der Mafia Herr zu werden. Im September 1983 wurde Dalla Chiesa von Cosa Nostra ermordet.
Armut in den Seitenstraßen
Der alte Bürgermeister, Leoluca Orlando, hatte es geschafft, Palermo umzukrempeln, aus einer düsteren und gefährlichen Stadt eine international bekannte Metropole zu machen, die 2019 von 1,6 Millionen Touristen aus aller Welt besucht wurde. Gleichzeitig hinterlässt er unzählige Baustellen und Probleme. Um sich ein Bild davon zu machen, braucht man nicht in das berüchtigte Viertel Brancaccio zu gehen, wo 1993 der Priester Don Puglisi von der Mafia ermordet wurde. Es genügt, in die eine oder andere Seitengasse des Corso Vittorio Emanuele, der Straße, die von der Kathedrale bis hinunter zum Meer die Altstadt durchquert, abzubiegen. Dort taucht man in eine andere Welt ein: Schutt und Ruinen noch aus dem Zweiten Weltkrieg, Müll, Jugendliche, die ohne Schutzhelm auf ihren Mofas und mit ohrenbetäubender Musik rauf und runter durch die Gasse rasen, Armut, wohin man blickt.
Widersprüche gebe es freilich, meint Dalla Chiesa, die Stadt habe trotzdem einen tiefgründigen Wandel durchgemacht. "Vor 30 Jahren fühlte man förmlich die Verstrickungen mit der Mafia und die große Skepsis gegenüber der Justiz, jetzt nicht mehr." Zwar schließt er Rückschläge nicht aus, neue Annäherungen zwischen dem alten und dem neuen Milieu seien offenkundig und von den Geldern aus dem EU-Wiederaufbaufonds will zweifelsohne auch die Mafia profitieren. Dass die Stadt aber wieder in die dunkle Zeit von einst zurückfallen könnte, schließt er aus.
Eine gewisse Sehnsucht nach Vergangenheit
Auch Attilio Bolzoni, Schriftsteller und Journalist, der sich ein Leben lang mit der Mafia beschäftigt hat, ist der Meinung, dass Palermo und die Palermitaner sich unter Orlando grundlegend verändert haben. "Zumindest ein Teil", sagt er ntv.de. Er weist er aber auf ein paar Veränderungen in der Gesellschaft hin, die gewisse Milieus anscheinend früher erkannt haben als andere. "Sprechen wir von Totò Cuffaro. Er hat bemerkt, dass die Zeit der Antipolitik vorbei ist, und hat deswegen eine Zweigstelle der Neuen Christdemokratischen Partei in Sizilien gegründet." Mit dem Ende der Antipolitik bezieht sich Bolzoni auf die Fünf-Sterne-Bewegung. Bei den Parlamentswahlen 2018 hatte die Bewegung in der sizilianischen Mafia-Hochburg Corleone 50 Prozent der Stimmen erhalten. Diesen Sonntag in Palermo waren es nur mehr 8,7 Prozent. Und das, obwohl in Sizilien die meisten Empfänger des Bürgergelds leben, das auf Drängen der Fünf-Sterne-Bewegung eingeführt wurde. Die Neue Christdemokratische Partei hat 5,6 Prozent der Stimmen bekommen.
Die zweite Veränderung hat mit einer gewissen Antimafia Haltung zu tun, die mehr auf den Kult als auf die Substanz setzt. "Einmal im Jahr wird am 23. Mai an das Attentat gegen Giovanni Falcone und am 16. Juli an das gegen Paolo Borsellino gedacht", sagt Bolzoni. "Im Laufe der Zeit sind diese Gedenkfeiern zu leeren Lippenbekenntnissen verkommen. Man spricht von Giovanni und Paolo, als wären sie Heilige. Doch mehr ist da nicht mehr und die Menschen sind nicht dumm, sie spüren das."
Für Bolzoni sind weder Dell'Utri noch Cuffaro das Problem, mit dem die Stadt in Zukunft umgehen muss, sondern der neue Bürgermeister. "Dass Lagalla, ehemaliger Rektor der Universität Palermo, die Unterstützung dieser zwei Männer nicht abgelehnt hat, finde ich ein starkes Stück." Lagalla hat auch an dem diesjährigen 30. Gedenktag für das Attentat gegen Falcone nicht teilgenommen. Die offizielle Begründung lautete, er wollte Protestaktionen gegen ihn vermeiden. "Freilich wäre es falsch und dumm, zu behaupten, dass Lagalla nur von den Mafiosi gewählt wurde", meint Bolzoni, "doch man spürt in der Stadt eine gewisse Sehnsucht nach Vergangenheit".
Quelle: ntv.de