Auf ein Bier in Wolfsburg "Die Merkel? Sterbenslangweilig!"
12.07.2017, 10:42 Uhr
Yvonnes Lieblingsanblick: die Schlote des VW-Heizkraftwerks
(Foto: imago stock&people)
Yvonne liebt ihren Job im Wolfsburger VW-Stammwerk. Nicht ganz so viel Liebe bringt sie der Führungsetage der Bundesrepublik entgegen. Von der SPD-Alternative ist die junge Frau trotzdem nicht überzeugt - schuld ist Martin Schulz.
In Deutschland leben mehr als 82 Millionen Menschen - und doch kommen viel zu oft nur die üblichen Verdächtigen oder die mit den lautesten Parolen zu Wort. Um das zu ändern, reisen wir bis zur Bundestagswahl am 24. September durch Deutschland und bitten Menschen um ihre Meinung, die sonst damit hinter dem Berg halten würden. Die Artikel erscheinen immer mittwochs. Diese Woche sind wir zu Gast in Wolfsburg.
Politik ist für die meisten Menschen eine Privatangelegenheit, abseits vom Stammtisch darüber zu sprechen noch immer ungewöhnlich. Unsere Gesprächspartner in dieser Serie sagen ihre Meinung frei heraus, manche von ihnen befürchten aber, deswegen zum Thema für den Nachbarschaftstratsch zu werden - und bitten uns, auf Fotos zu verzichten. Wir respektieren diesen Wunsch.
Vier rote Schornsteine sind der Schlüssel zu Yvonnes Glück. Jeden Tag spuckt der Zug die zierliche Brünette aus der Wolfsburger Peripherie am Hauptbahnhof aus und jeden Tag sind die vier gewaltigen Schlote des VW-Heizkraftwerks das Erste, was Yvonne von ihrem Arbeitsplatz sieht. "Teil von etwas so Großem zu sein, das bockt mich", sagt die junge Frau, die noch keine 30 ist, aber schon mehr als zehn Jahre Arbeitserfahrung am Volkswagen-Stammwerk in Wolfsburg hat.
Heute ist Yvonnes Glücksmoment schon mehr als acht Stunden vorbei, dafür entkorkt sie gerade nach einem langen Tag an der Fertigungsstraße Highlight Nummer zwei: ein Feierabendbier aus der Tunnelschänke. "Hasseröder für 1 Euro" steht auf einer Tafel vor der Kneipe, Yvonne kauft gleich zwei und setzt sich mit den Flaschen ein Stück abseits. Von hier aus kann die Mechatronikerin die Kollegen beobachten, die im Eiltempo dem Tunnel entgegenstreben, der sie auf die andere Seite an ihre Arbeitsplätze bringt. "Irre, oder? Da drüben arbeiten jeden Tag 75.000 Menschen und jeder weiß genau, was er zu tun hat", sinniert Yvonne.

Tor 17 ist der Eingang zum Tunnel, den Yvonne jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit durchqueren muss.
(Foto: Julian Vetten)
Kleine Rädchen, die ineinandergreifen und am Ende etwas Größeres antreiben: Yvonne liebt Maschinen, weil bei ihnen das Ganze mehr ist als die Summe ihrer Teile. VW ist eine enorm komplexe Maschine, die - Abgas-Skandal hin oder her - größtenteils reibungslos funktioniert, deshalb liebt Yvonne auch ihren Arbeitgeber. Und was ist mit der Bundesrepublik und ihren 82 Millionen kleinen Rädchen? Yvonne lässt sich viel Zeit mit der Antwort und sagt schließlich: "Hmm, macht sich ganz okay, würde ich sagen." Nur das mit der Liebe, das wäre in dem Fall dann doch übertrieben.
Gemeingefährliche schwarze Bande
Das liegt vor allem daran, dass Yvonne mit den Menschen in der Führungsetage des Landes nicht zurechtkommt: "Die Merkel? Ist okay, aber sterbenslangweilig. Und der Rest der schwarzen Bande ist gemeingefährlich." Dann also doch lieber Martin Schulz? Ein hemdsärmeliger SPD-Politiker, der kein Blatt vor den Mund nimmt, das klingt doch genau nach Yvonnes Kragenweite. "Wenn du mich vor ein paar Wochen gefragt hättest, hätte ich ohne zu zögern Ja gesagt." Und warum heute nicht mehr? "Der Spaten war zu Besuch im VW-Werk, was für 'ne traurige Vorstellung."
Anfang Juni sprach der Kanzlerkandidat der SPD auf der VW-Betriebsversammlung - einer der vielen Termine, die Schulz auf seiner Wahlkampftour absolviert und die in der Regel völlig an der öffentlichen Wahrnehmung vorbeigehen. Yvonne glaubt den Grund dafür zu wissen: "Viel Bla, Blä und Blub, aber nix Handfestes und vor allem nix Neues." Die junge Frau gibt unumwunden zu, dass sie nach Schulz' Nominierung auf der Hypewelle mitschwamm. Im Stern-RTL-Wahltrend waren Schulz und Merkel damals kurze Zeit fast gleichauf. Heute liegt die Amtsinhaberin bei den Sympathiewerten wieder weit vorn. Auch von Yvonnes Begeisterung ist wenig übriggeblieben: "Wenn man erstmal durchgestiegen ist, sieht man, dass all die schönen Worte nur heiße Luft sind."
Was aber ist die Konsequenz? "Ein paar meiner Kollegen wollen jetzt AfD wählen, ich nicht", sagt Yvonne. Weil die Alternative noch heißere Luft abliefert als Martin Schulz? "Nee, nee: Mein Opa hat SPD gewählt, meine Eltern wählen auch SPD, das hat bei uns Tradition. Ist doch klar, was ich wähle." Sagt es, leert mit einem tiefen Zug die zweite Flasche Bier und marschiert Richtung Hauptbahnhof davon. Für heute geht es ab nach Hause, aber schon morgen freut sich Yvonne wieder auf ihre vier Türme. Und die stehen auch am 25. September noch da, ganz egal, wer an jenem Montag als Bundeskanzler aufwachen wird.
Quelle: ntv.de