Nach dem Fall von Aleppo "Die Syrer wollen ein Ende der Kämpfe"
14.12.2016, 10:29 Uhr
Kinder in Aleppo, aufgenommen am Dienstag.
(Foto: imago/Kyodo News)
Aus Sicht der Journalistin Karin Leukefeld ist die Eroberung der syrischen Stadt Aleppo eine gute Nachricht, da die Kämpfe dort jetzt zu Ende gehen. "Ob man für oder gegen die syrische Regierung ist, spielt für viele Menschen in Aleppo schon lange keine Rolle mehr."
n-tv.de: Die Assad-Truppen haben Aleppo erobert. Ist das für die Bewohner der Stadt eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Karin Leukefeld: Das kommt darauf an, aus welcher Sicht man den Konflikt in den vergangenen Jahren erlebt hat. Auf beiden Seiten der Stadt haben die Menschen viel verloren. Aber ich denke, insgesamt bedeutet es, dass die Kämpfe zu Ende gehen. Das ist eine gute Nachricht.
War es zuletzt noch möglich, von der einen auf die andere Seite der Stadt zu wechseln, ohne erschossen zu werden?
Es gab Tunnel, über die Kämpfer und Soldaten, die sich da auskennen, hin und her bewegen konnten. Aber für die Zivilbevölkerung waren die Übergänge schon seit einiger Zeit gesperrt. Es gab Barrikaden und an einigen Stellen hingen große Tücher, um Scharfschützen die Sicht zu versperren. Ich habe vor ein paar Wochen in Aleppo mit einem Mann gesprochen, der zu einem lokalen Versöhnungskomitee gehört – solche Komitees gibt es in ganz Syrien. Er erzählte mir, dass er früher häufig in den anderen Teil der Stadt gegangen ist, um dort mit den Menschen zu sprechen, um zu erfahren, was sie wollen, und um einen Weg zu finden, dass die Gewalt reduziert wird, dass die Waffen niedergelegt werden. Seit März komme er nicht mehr in den Ostteil der Stadt, sagte er.
Sie waren mehrfach in Aleppo. Wann zuletzt?
Ich bin als Journalistin in Syrien akkreditiert und habe daher die Möglichkeit, ein- und auszureisen und mich dort lange aufzuhalten. Ich war im August in Aleppo und wieder im September, während des Waffenstillstandes. Zuletzt war ich im November in Syrien, auch für drei Tage in Aleppo.
Wie muss man sich die Teilung der Stadt vorstellen? Lebten im Gebiet der Regierung nur Menschen, die mit Assad einverstanden waren, und in den anderen Teilen der Stadt nur Leute, die den Präsidenten ablehnten?
Nein, so war das nicht. In Aleppo und im Umland der Stadt lebten vor dem Krieg bis zu 3,5 Millionen Menschen. Aleppo ist die zweitgrößte Stadt Syriens. Vor dem Krieg war es die reichste Stadt des Landes, das Handels- und Finanzzentrum. Mit Beginn des Konflikts flohen viele Menschen aus den Gebieten, in die die bewaffneten Gruppen einmarschiert sind, in die anderen Gebiete der Stadt. Zum Schluss lebten in der Gegend, die von der syrischen Regierung kontrolliert wird, 1,5 Millionen Menschen. Viele von ihnen waren Vertriebene aus dem Ostteil, aber auch aus anderen Kampfzonen im Norden Syriens.
Im Gebiet unter Kontrolle der Opposition und der bewaffneten Gruppen lebten bis zu 250.000 Menschen. Diese Zahl variierte immer wieder – unlängst sagte der UN-Sonderberichterstatter Staffan de Mistura, dass im Ostteil von Aleppo deutlich weniger Menschen gelebt hätten, als die UN immer angenommen hatten. Vermutlich unter 100.000.
Ob man für oder gegen die Regierung ist, spielt für viele Menschen in Aleppo schon lange keine Rolle mehr. Sie wollen vor allem den Kämpfen entkommen. Insofern gibt es im Gebiet unter Kontrolle der Regierung durchaus Personen, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, die aber noch viel weniger damit einverstanden sind, dass die Opposition sich von bewaffneten Gruppen unterstützen lässt. Man darf nicht vergessen, dass Menschen auf der Straße hingerichtet wurden, dass die Frauen sich tief verschleiern mussten. Umgekehrt sind viele Menschen im Ostteil der Stadt geblieben, obwohl sie mit den bewaffneten Gruppen nicht einverstanden waren. Sie hatten vielleicht eine Wohnung, die sie nicht aufgeben wollten, sie hatten kranke Angehörige, die sie pflegen mussten, sie hatten vielleicht auch keine Verwandten oder Bekannten im anderen Teil der Stadt, zu denen sie hätten gehen können.
Wie zerstört ist die Stadt?
Trümmer gibt es in allen Teilen von Aleppo, von den Kämpfen sind alle Einwohner betroffen. Alle haben Hab und Gut verloren, ihren Job, einen Teil ihres Körpers oder Freunde und Angehörige. In den Krankenhäusern habe ich furchtbare Dinge gesehen. Dieser Krieg hat alle Syrer zutiefst verletzt.
Selbst in den Randgebieten von Aleppo sind viele Häuser durch Raketenbeschuss oder Luftangriffe zerstört. Manchmal ist nur ein Teil eines Hauses eingestürzt und im anderen Teil leben noch Menschen, die keine andere Unterkunft haben. Ich war immer im Westteil von Aleppo, aber während des Waffenstillstandes konnte ich relativ nah an die Frontlinie in der Altstadt von Aleppo. Dort sieht man überall die Spuren der Kämpfe, dieser Teil von Aleppo ist durch Explosionen zerstört. Im Westen gibt es Stadtviertel, wo man keine Zerstörungen sieht. Ich habe dort Bekannte, im August sind wir an einem Abend in ein Eiscafé gegangen. Gleichzeitig hörte man die Kämpfe, die rings um die Stadt weiterliefen. Das war schon eine surreale Situation.

Am Dienstagabend protestierten rund 400 Menschen, die meisten von ihnen syrische Flüchtlinge, vor der russischen Botschaft in Berlin.
(Foto: imago/Christian Mang)
Können Sie einschätzen, ob die Assad-Truppen nach der Eroberung von Rebellengebieten besonders grausam vorgehen?
Ich habe den Bericht des UN-Menschenrechtsrates gelesen, demzufolge in Aleppo möglicherweise 82 Zivilisten von Milizen getötet wurden, die mit der syrischen Armee in den Ostteil der Stadt vorrückten. Ich wäre bei solchen Berichten vorsichtig. Allerdings muss man sagen, dass mit der syrischen Armee viele Milizen kämpfen, die sich vermutlich nicht alle an das Kriegsrecht halten – wie die bewaffneten Gruppen auf der anderen Seite auch. Wenn ein Krieg dem Ende zugeht, kann es zu solchen Grausamkeiten kommen. Ich würde das nicht ausschließen, aber ich würde solche Meldungen erst verifizieren wollen.
Warum ist es Russland und den USA nicht gelungen, sich auf eine halbwegs stabile Waffenruhe für Aleppo zu verständigen?
Im September war die Hoffnung relativ groß. Die syrische Armee hielt sich an den Waffenstillstand, weil Russland darauf bestand. Auf Seiten der bewaffneten Gruppen wurden in dieser Zeit dennoch immer wieder Raketen und Mörsergranaten abgeschossen, weil einige dieser Gruppen keine funktionierenden Kommandostrukturen hatten. Zerstört wurde der Waffenstillstand, weil die Anti-IS-Allianz unter Führung der Amerikaner in Deir ez-Zor vier Angriffe auf die syrische Armee geflogen ist. Die USA sagten, das sei ein Versehen gewesen, aber auf der syrischen Seite hat man das nicht geglaubt. Und dann gab es zwei Tage später westlich von Aleppo einen Angriff auf einen Hilfskonvoi, von dem bis heute ungeklärt ist, wer dafür verantwortlich ist.
Die USA haben Russland dafür verantwortlich gemacht.
Russland und Syrien haben das dementiert; ich denke, das muss noch untersucht werden. Aber diese Ereignisse führten dazu, dass der Waffenstillstand zusammengebrochen ist. Gleichwohl muss man sagen, dass es landesweit etwa 1000 lokale Waffenstillstände gibt, verhandelt durch die Versöhnungskomitees. Für mich ist das ein Zeichen, dass die Syrer alles tun, um den Frieden zu gewinnen.
Warum ist der Krieg so blutig, warum kann er nicht durch Verhandlungen beendet werden?
In jedem Krieg gibt es Menschen, die daran verdienen. In Syrien gibt es Leute, die am Schmuggel von Waffen verdienen, am Schmuggel von Menschen und am Schmuggel von Lebensmitteln und Medikamenten. Das ist ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist. Ein weiterer Punkt ist, dass die Religion in diesem Krieg massiv instrumentalisiert wurde. Es gibt viele junge Männer in Syrien, die glauben, dass Schiiten und Alawiten – Assad gehört den Alawiten an – die Sunniten vernichten wollen. Das wird durch Prediger aus den Golfstaaten propagiert und hat nach so vielen Jahren Spuren hinterlassen. Ein dritter Grund ist, dass in diesem Krieg viele Drogen eingesetzt wurden. Ein Bekannter hat mir kürzlich ein Video geschickt, das einen jungen Mann zeigt, der immer sagt: Ich kämpfe für Ahrar al-Scham, ihr doch auch, wir sind doch Freunde. Nur befand er sich in den Händen der syrischen Armee. Er hat das gar nicht verstanden, weil er vollkommen unter Drogen stand. Und schließlich gibt es regionale und internationale Interessen. All das trägt dazu bei, dass dieser Krieg so blutig ist und so furchtbar lange anhält.
Es scheint ein Bedürfnis zu geben, Kriegsparteien in "gut" und "böse" einzuteilen. Für manche sind Russland und Assad die Bösen, für manche sind die Anti-Assad-Kämpfer die Bösen, aus Sicht einiger Republikaner in Washington ist das Vorgehen der US-Regierung zu lasch. Aber alle können sich darauf einigen, dass der IS gefährlich ist.
Als Journalistin kann ich mit solchen Kategorien nichts anfangen. Es gibt auf den unterschiedlichen Seiten sicherlich Interessen, für die Akteure eintreten. Solche Interessen muss man benennen. Dann gibt es noch Syrien, das Land, wo alles stattfindet. Dieses Land ist ein souveräner Staat, Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, der Präsident ist gewählt, ob man ihn nun mag oder nicht. Es gab dort einen Aufstand von Menschen, die das Land verändern und die Regierung stürzen wollten. Erst haben sich die Regionalstaaten eingemischt, dann die internationalen Staaten, und so ist dieser Konflikt immer komplizierter geworden. Längst geht es nicht mehr um ein besseres Leben für die Syrer, um mehr Rechte und Demokratie, sondern um die Interessen anderer Staaten.
Wie, glauben Sie, wird die Situation in ein oder zwei Jahren sein?
Ich hoffe, dass die Waffen so schnell wie möglich schweigen. Die Vereinten Nationen sagen, wenn es keine Einmischung von außen mehr gäbe, wären die Syrer in der Lage, die Situation in sechs bis zwölf Monaten zu befrieden. Dann könnte man mit dem Wiederaufbau und mit der Versöhnung beginnen. Da aber die Regionalstaaten – die Türkei, Saudi-Arabien, der Iran, auch Israel – ihre Interessen in Syrien weiterhin vertreten sehen wollen durch verschiedene bewaffnete Gruppen, und weil auch die USA und Russland sich nicht einigen können, befürchte ich, dass die militärische Auseinandersetzung mindestens noch einige Monate dauern wird.
Zwischen Russland und den USA gibt es erhebliche Unterschiede, was die aktuelle Lage in Aleppo angeht.
Am Dienstagnachmittag wurde bekannt, dass die bewaffneten Gruppen eingewilligt haben, Aleppo zu verlassen. Das kam wohl durch den Einsatz von regionalen und internationalen Akteuren zustande. Bei einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates gab der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin bekannt, dass die Kämpfer mit ihren Familien und Verletzten durch selbst gewählte Korridore die Stadt verlassen würden, auch in Richtung der Provinz Idlib. Diese Provinz steht in weiten Teilen unter Kontrolle der Nusra-Front. Westliche Vertreter im UN-Sicherheitsrat, wie die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power, beschuldigen Russland und das "Assad-Regime", wie Power sagte, auf der gewaltsamen Rückeroberung von jedem Zentimeter der Stadt zu beharren, "egal wie viele unschuldige Tote sich vor ihnen stapeln". Der britische UN-Botschafter Matthew Rycroft ging noch weiter und sprach von einem "dunklen Tag für die Menschen in Aleppo". Die syrische Armee – mit Unterstützung Russlands – würde nun "die Belagerung durch Massaker ersetzen".
Man hört daraus ganz deutlich, wie unterschiedlich die Entwicklung im Sicherheitsrat bewertet wird. Weitere Kämpfe im Umland von Aleppo, in Idlib, aber auch im Nordosten Syriens sind zu erwarten. Doch Kämpfe auf dem flachen Land haben eine andere Qualität, als Kämpfe in dicht bewohnten Städten. Wir werden abwarten müssen, ob es mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump möglicherweise eine Kehrtwende geben wird. Er hat ja einen neuen Außenminister ernannt, der als Geschäftsmann gute Kontakte nach Russland haben soll. Vielleicht kommen die USA jetzt neu ins Gespräch mit Russland, was eine Voraussetzung wäre, um den Konflikt zu befrieden.
Sie sehen die Verantwortung für den bisher ausbleibenden Erfolg der Genfer Gespräche eher auf der amerikanischen Seite?
Ich glaube, das Problem der US-Regierung in den letzten Jahren war, dass sie nicht einer Meinung war. Es gab den Präsidenten, der offensichtlich nicht militärisch eskalieren wollte, und es gab das Pentagon, das eine andere Position vertrat. Die amerikanischen Geheimdienste haben sogar unterschiedliche Gruppierungen unterstützt, die in Syrien gegeneinander gekämpft haben. Das hat die Lage der Opposition zusätzlich verschärft.
Mit Karin Leukefeld sprach Hubertus Volmer
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Quelle: ntv.de