Speerspitze in Kursk Die Ukraine lässt ihre Elite-Einheiten von der Leine
04.09.2024, 15:38 Uhr Artikel anhören
Ukrainische Spezialkräfte haben mehrere Pontonbrücken über den Fluss Sejm zerstört.
(Foto: picture alliance / Cover Images)
Die Elite-Einheiten der ukrainischen Armee können seit einigen Wochen wieder ihre Stärken ausspielen. Grund ist Kiews Kursk-Offensive. Die Geländegewinne auf russischem Boden sind zum Großteil den Spezialtruppen zu verdanken. Ihnen bieten sich im Feindesland ideale Bedingungen.
Seit dem 6. August halten sich ukrainische Soldaten in Russland auf. Die Region Kursk, direkt hinter der ukrainischen Grenze, wird seitdem in Teilen von Kiews Truppen kontrolliert. Wolodymyr Selenskyj hatte zunächst angekündigt, mit der Kursk-Offensive eine "Pufferzone" schaffen zu wollen. Im Interview mit dem US-Sender NBC News teilte der ukrainische Präsident nun mit, dass die Ukraine die besetzten Gebiete in der russischen Oblast so lange halten will, bis Kremlchef Wladmir Putin an den Verhandlungstisch kommt. Die Besetzung der Gebiete sei ein wesentlicher Bestandteil des "Siegesplans", so Selenskyj.
Angeblich, so berichten ukrainische Medien, soll Russlands Präsident Putin seinen Streitkräften zuletzt befohlen haben, dass er zum Start in den Herbst die Kontrolle über die Region Kursk zurückhaben will. Am 1. Oktober sollen die ukrainischen Soldaten vom russischen Staatsgebiet vertrieben sein.
Ob es so kommt, kann niemand sagen. Die schnelle Offensive der Ukraine scheint jedenfalls vorbei. "Das Momentum der ukrainischen Offensive in Kursk ist zum Erliegen gekommen", hat Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer ntv.de gesagt.
Die ukrainischen Truppen graben sich vielerorts ein und bereiten sich auf Gegenangriffe vor - verabreichen Russland aber immer wieder schmerzhafte Nadelstiche. Denn nach blutigen Monaten des Stellungskriegs im Osten und Süden der Ukraine können auf russischem Boden die ukrainischen Elite-Einheiten endlich ihre Stärken ausspielen: Berichten zufolge waren sie die Speerspitze der überraschenden Offensive und versetzen die russischen Truppen in Angst und Schrecken.
Seit dem 6. August haben Spezialkommandos in Kursk demnach eine ganze Reihe von komplexen Operationen durchgeführt. Die Rede ist von "Sabotageangriffen auf Eisenbahnen, Treibstoffdepots und Kommunikationsleitungen sowie Überfällen auf russische Militärkonvois und Angriffe auf Einrichtungen tief im russischen Hoheitsgebiet", analysiert etwa der US-amerikanische Oberstleutnant Doug Livermore in einem Text für das Center for European Policy Analysis (CEPA).
In Echtzeit identifizieren demnach Geheimdienstquellen, Truppen vor Ort oder Drohnen weitere Ziele auf russischem Boden und ermöglichen den Elite-Einheiten neue Überraschungsangriffe. Videomaterial zeigt, wie Kiewer Elitetruppen in kleinen Gruppen hinter den feindlichen Linien agieren, russische Brücken zerstören oder russische Wehrpflichtige in einen Hinterhalt locken und gefangen nehmen.
"Moralisches Doping für die Ukraine"
Die Kursk-Offensive bietet für die ukrainischen Spezialeinheiten ideale Bedingungen. Das Kampfgebiet ist deutlich weniger statisch als im Osten der Ukraine, wo riesige Minenfelder und Grabensysteme, feste Stellungen und ständiger Artilleriebeschuss dynamische Einsätze der Elite-Soldaten unmöglich machen. In Kursk konnte Kiews Armee ihre Spezialeinheiten nun wieder von der Leine lassen, damit diese ihre Stärken ausspielen können. "Die Rückkehr zu dynamischen Operationen in Kursk spiegelt eine umfassende Veränderung des Konflikts wider, da die ukrainischen Streitkräfte wieder in Schwung gekommen und die Frontlinien fließender geworden sind", fasst Livermore zusammen.
Die Überraschungsoffensive der Ukrainer auf russischem Boden unterstreiche "die Bedeutung der unkonventionellen Kriegsführung in der aktuellen Phase". Außerdem zeige sich durch die Geländegewinne in Kursk, wie verwundbar Russland zumindest nahe der ukrainischen Grenze ist. Je größer die Bedrohung auf dem eigenen Staatsgebiet wird, desto eher könnte es signifikante Umverteilungen von Truppen aus anderen Gebieten geben. Die Ukraine hofft, dass sie im umkämpften Donbass zurückschlagen kann, wenn Russland dort Truppen abziehen und sein monatelanges Dauerfeuer zurückfahren muss. Bisher gibt es dafür jedoch keine klaren Anzeichen.
Die Kursk-Offensive ist ein "hochriskantes Unterfangen", sagt Ex-General Feichtinger. Es gibt viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen. "Man sieht natürlich schon, dass einige Effekte erzielt wurden. Zum einen ist der Ukraine gelungen, aus der reinen Defensive herauszukommen und hier mit dieser Offensivoperation wieder initiativ zu werden und Russland in gewisser Weise zum Handeln zu zwingen." Zudem sei der psychologische Effekt der erfolgreichen Operation im Feindesland nicht zu unterschätzen, betont der Experte. "Das ist moralisches Doping für die ukrainische Seite, weil sie sehen: Wir werden nicht nur zurückgedrängt und getötet, sondern wir sind auch selber in der Lage, Russland weh zu tun."
Keine großen Umgruppierungen aus Donbass
Die Ukrainer konnten die Grenze zur Region Kursk auch deshalb so leicht überwinden, weil Russland hier offenbar vorrangig schlecht ausgebildete Wehrpflichtige und einheimische Sicherheitskräfte eingesetzt hat.
Größere Umgruppierungen aus dem Osten der Ukraine haben die Russen nicht vorgenommen. Nur punktuell wurden bislang Truppen verschoben. An der Donbass-Front ist die russische Armee weiterhin klar im Vorteil. Und zuletzt gab es Berichte über die Bildung von Freiwilligentruppen, die Russland in Kursk verteidigen sollen, damit die eigenen Operationen im Donbass nicht gefährdet werden. Außerdem gab es zuletzt Erkenntnisse, wonach auch russische Söldner aus Afrika in die Heimat verlegt wurden.
Weil es Kiew aber offenbar ohnehin darum geht, das Gebiet aus politischen Gründen noch lange zu halten, um ein Faustpfand in der Hinterhand zu haben, werden auch die Elite-Einheiten für die gefährlichsten Operationen weiter gebraucht. Sollten die Russen früher oder später aber doch noch mehr Soldaten nach Kursk schicken und auch dort ein Stellungskrieg entstehen, wird auch der Handlungsspielraum für die Elite-Einheiten an der Speerspitze der Kursk-Offensive wieder eingeschränkt.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de