
In einigen Dingen ähneln sich Merkels Schulbesuche sehr: Selfies, Autogramme und Applaus.
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Dass Deutschland "ein paar Monate mehr Flüchtlinge aufgenommen" habe, habe Europa geholfen, sagt Angela Merkel bei einem Besuch an einer Berliner Schule. Und sie bläst zum Angriff auf die AfD – aber "ohne Schaum vor dem Mund".

Dieses Mädchen hat einen Foto-Wettbewerb zum Thema Europa gewonnen. Der Preis: ein Selfie mit der Kanzlerin.
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Wenn Angela Merkel anlässlich des Europatages das Französische Gymnasium in Berlin besucht und dort an einer Podiumsdiskussion mit Schülern teilnimmt, dann erwartet man Applaus, Selfies und ein deutsch-französisches Liedchen zur Begrüßung, und dann Fragen zur EU und zur deutsch-französischen Freundschaft. Man rechnet aber auch damit, dass die Jugendlichen der Kanzlerin kritische Fragen zu ihrer Flüchtlingspolitik stellen. Zum Beispiel: Kann es richtig sein, dass in Europa fast nur noch davon gesprochen wird, die Außengrenzen zu "sichern", dass es vor allem darum geht, Flüchtlinge und Migranten abzuwehren, statt ihnen zu helfen?
Auf solche Fragen müsste Merkel dann ihre Flüchtlingspolitik rechtfertigen. Sie müsste sie als das darstellen, was sie ist: einen unvollkommenen Kompromiss zwischen einer von Abwehr geprägten Stimmung in vielen europäischen Ländern und der Selbstverständlichkeit, dass Menschen einander helfen. Insofern war Merkels Besuch am Französischen Gymnasium eine Überraschung. Denn das Lied, den Applaus und die Selfies gab es. Die kritischen Fragen nicht.
Das "FG" ist nicht irgendeine Schule. Es wurde vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. für die Kinder der Hugenotten gegründet – für Flüchtlinge also. Heute ist das Gymnasium eine Eliteschule, zugleich ein Symbol der deutsch-französischen Freundschaft. Merkel ist offensichtlich sehr bewusst, dass sie es mit potenziellen Multiplikatoren zu tun hat. Am Ende der Diskussion bittet sie die Schüler, in ihrem Umfeld darauf hinzuwirken, dass Menschen ihre Vorurteile zumindest hinterfragen. "Es gibt so viele Menschen, die sprechen über Flüchtlinge und haben noch nie einen gesehen."
Es gibt aber auch Menschen, die erstaunlich wenig über Flüchtlinge sprechen. Die Schüler stellen Fragen zum Binnenmarkt, zum Aufstieg des Front National in Frankreich, zum europäischen Arbeitsmarkt und zum "Bologna-Prozess", der für eine Vergleichbarkeit der Uni-Abschlüsse in Europa sorgen soll. Eine Schülerin fragt, ob die europäische Verteidigungspolitik schon so harmonisiert sei, dass eine gemeinsame Verteidigungspolitik möglich wäre (Merkels Antwort: "nicht generell", auf Deutsch also: nein). Dabei fällt auf, dass die Schüler davon auszugehen scheinen, dass "mehr Europa" grundsätzlich eher zur Lösung beiträgt, nicht zum Problem. Kein Wunder: Hier werden Menschen ausgebildet, die später in Europa Verantwortung übernehmen sollen.
"Uns hat es nicht überlastet"
Dafür, dass Regierungschefs sich normalerweise nicht in die Innenpolitik ihrer Nachbarländer einmischen, äußert Merkel sich zum Front National recht deutlich. "Ich werde versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten, soweit man das von außen kann, dass natürlich andere politische Kräfte stärker werden als der Front National." Das sei eine Kraft, "mit der wir uns auseinandersetzen müssen, genauso wie wir jetzt ja auch in Deutschland Kräfte haben, die sehr negativ über die Europäische Union sprechen, wenn man mal jetzt die Programmatik der AfD sieht." Möglicherweise wendet sie ihre neue Strategie im Umgang mit den Rechtspopulisten erstmals öffentlich an: Am Morgen hatte die "Bild"-Zeitung gemeldet, Merkel habe im CDU-Präsidium einen anderen Umgang mit der AfD angeregt. Es sei nicht sinnvoll, auf die AfD und ihre Wähler immer nur einzuprügeln.
Erst in der vorletzten Frage geht es um Flüchtlinge. Eine Schülerin will wissen, warum die europäische Solidarität "angesichts dieses massiven Flüchtlingszustroms" so schwach gewesen sei. Merkel erklärt, dass Europa, wie schon in der Eurokrise, gerade getestet werde. Inzwischen seien alle europäischen Regierungen aber einig: Ein Rückfall in nationale Grenzkontrollen wäre ein Rückschritt, der Europa schwächen würde.
Da es sonst niemand tut, stellt sie die Frage, wie viele Flüchtlinge Europa aufnehmen könne, sich selbst. Sie erläutert, dass Syrien ein Nachbar des Schengen-Raumes sei, dass die Türkei 2,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe, das kleine Libanon 1,5 Millionen, Jordanien knapp eine Million. Müssten dann nicht 500 Millionen Europäer bereit sein, eine Million Syrer aufzunehmen? Zumal die meisten ja nicht für immer blieben, sondern nach dem Ende des Kriegs wieder gehen würden. Sie selbst glaube, Europa solle einen "fairen Beitrag" leisten.
Wenn Deutschland etwas mehr tue als andere Länder, dann habe das Gründe. Sie zählt auf: Deutschland habe nach dem Krieg und bei der Wiedervereinigung erlebt, wie es ist, auf die Solidarität von Nachbarn angewiesen zu sein. Deutschland mache an anderen Stellen weniger als andere, etwa bei den Verteidigungsausgaben. Außerdem seien wir wirtschaftlich stark genug, um zu helfen. "Dass wir ein paar Monate mehr Flüchtlinge aufgenommen haben", habe Europa geholfen – so sei genug Zeit gewesen, eine gemeinsame Position zu entwickeln, "und uns hat es nicht überlastet". Was sie nicht schön finde, fügt sie hinzu, sei, wenn andere Länder sagen, sie nähmen keine Muslime auf. "Das geht nicht", das widerspreche den europäischen Werten und der Religionsfreiheit.
Wie das so üblich ist, beendet Merkel ihren Schulbesuch mit einem kurzen Statement für die Kameras. Auf die Frage nach einem neuen Umgang mit der AfD sagt sie, es gebe "keinerlei neue Strategie" – oberflächlich betrachtet dementiert sie die "Bild"-Meldung also. Sie glaube, "dass wir genug gute Argumente haben, uns mit anderen Meinungen – auch denen der AfD – auseinanderzusetzen", sagt Merkel weiter. "Und zwar ohne jeden Schaum vor dem Mund und ohne Pauschalurteile." Mit anderen Worten: ohne auf die AfD und ihre Wähler einzuprügeln. Die Kanzlerin, so scheint es, hat Spaß an der Debatte gefunden. Jetzt braucht sie nur noch ein Umfeld, um sie zu führen.
Quelle: ntv.de