Rede vor dem Bundespräsidenten Eine Generalabrechnung mit Putin-Fans und DDR-Nostalgikern


Marko Martin sparte bei seiner Rede im Schloss Bellevue nicht mit deutlichen Worten.
(Foto: picture alliance / Metodi Popow)
Dass sich ein deutsches Staatsoberhaupt bei einem Festakt in seinem Amtssitz heftige Kritik anhören muss, passiert nicht alle Tage. Frank-Walter Steinmeier hat es erlebt. Auf den Versuch des Schriftstellers Marko Martin, "die übliche Gedenkroutine etwas zu unterlaufen", reagierte der Bundespräsident wütend.
Als Marko Martin seine Ansprache für den Festakt des Bundespräsidenten zum 35. Jahrestag des Mauerfalls niederschrieb, muss ihm klar gewesen sein, was er damit anrichten, wie der Nachhall in den Medien sein würde. Denn sein Schlusssatz war kein spontaner Einfall, sondern stand so im Manuskript: "Meine Damen und Herren, obwohl vielleicht einige von Ihnen eine etwas andere Rede erhofft oder erwartet hätten - ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben."
Offensichtlich waren nicht alle Zuhörer auf Schloss Bellevue glücklich darüber, den Aussagen des ostdeutschen Schriftstellers gelauscht zu haben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Gemahlin klatschten nicht. Was umso erstaunlicher erschien, da das Staatsoberhaupt in seinen eigenen Reden permanent für Toleranz als wichtigen Bestandteil der Demokratie wirbt. Nun grollte er in aller Öffentlichkeit, weil es jemand wagte, ihn - sachlich und ohne Boshaftigkeit - für einen Teil seines politischen Schaffens zu kritisieren.
Dabei bezog sich lediglich eine einzige kurze Passage in Martins 15-minütigem Vortrag auf das Verhalten Steinmeiers gegenüber Russland in der Regierungszeit von Angela Merkel. Der Rest war eine Generalabrechnung mit Putin-Fans, Russland-Beschwichtigern und -Verharmlosern, DDR-Nostalgikern und Geschichtsumdeutern, die den sozialistischen Staat auf deutschem Boden als Hort sozialer Gerechtigkeit, Garanten für Frieden und Humanismus verklären.
Martin, 1970 im sächsischen Burgstädt geboren, nannte als Ziel seiner Rede, "die übliche Gedenkroutine etwas zu unterlaufen" - was ihm definitiv gelang. Bei t-online sagte er: "Es sind ja immer die gleichen Satzbausteine. Das hörte man auch wieder in der Rede des Bundespräsidenten." Steinmeier hatte gesagt: Die Menschen vor 35 Jahren "haben dabei etwas erfahren, das für das Gelingen einer Demokratie entscheidend ist: welche Kraft Menschen entfalten, wie viel sie bewegen können, wenn sie leidenschaftlich streiten, beherzt streiten für Wahrhaftigkeit, für Demokratie und Freiheit. Es ist diese Stärke, es ist diese Kraft, die wir jetzt brauchen für unsere Demokratie." Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte: "Mut, Zuversicht und Zusammenhalt zahlen sich aus. Gegeneinander erreichen wir nichts, nur zusammen sind wir stark!"
Martin, der sich seit Jahrzehnten mit den Folgen von Totalitarismus befasst, widerspricht den Statements inhaltlich nicht. Er hält sie aber für wenig hilfreich, um zu verstehen, was in Deutschland - vor allem im Osten - vor sich geht. "Man spürt sehr viel Pflichtschuldiges, wenig Empathie und vor allem sehr, sehr wenig Beschäftigung mit den Hintergründen von 1989. Von Fakten und Tatsachen, deren Kenntnis auch heute noch absolut wichtig ist, um zu begreifen, was geschehen ist, was gegenwärtig auf uns zukommt und was in der Zukunft vielleicht noch zu erwarten ist."
Der Schriftsteller schickte sich also an, Korrekturen vorzunehmen. Er erinnerte daran, dass Millionen DDR-Bürger vor dem Mauerfall nicht auf der Straße waren, sondern "hinter den Wohnzimmer-Gardinen" abwarteten und kein Risiko eingingen. "Was im Übrigen kein Werturteil ist, sondern lediglich ein quasi nachgetragener Fakten-Check, der so manch fortwirkende Mentalitäten erklärt." Aus Sicht Martins ist das ein wichtiger Grund, warum das Autoritäre in Ostdeutschland nach wie vor großen Anklang findet und die AfD, die er namentlich nicht nannte, sowie die "Wagenknecht-Sekte", beide "offen Putin-affin und infamste Kreml-Propaganda verbreitend", enormen Wählerzulauf haben.
Vor allem aber sieht Martin im - von ihm ausgemachten - kindlichen Egoismus vieler Ostdeutscher die Wurzel für die große Unterstützung Russlands. "Der Putin, der Putin, immer nur der Putin - und was ist mit uns?", heiße es. "Aus dieser absurd verengten Perspektive heraus scheint selbst der Angriffskrieg auf die Ukraine zuvörderst ein erneuter westlicher Vorwand, um sich nicht um die Belange Ostdeutscher zu kümmern." Debatten um den Klimawandel, die Flüchtlingskrise von 2015, der Antisemitismus oder die Kriege im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre seien vielfach lediglich als "Zumutung" und "narzisstische Kränkung" erfahren worden, "die sich dann quengelnd zu artikulieren versuchte: 'Und wir, wer kümmert sich denn um uns?'"
Die unter Putin-Fans und NATO-Kritikern weitverbreitete "Sorge" um die Folgen des Krieges in der Ukraine hält Martin für vorgeschoben, den Wunsch nach Frieden "ohne Dauer, Stabilität und Gerechtigkeit" für gefährlich. Er sprach von einer "Inflationierung des Friedensbegriffs". Unter Verweis auf die Tatsache, dass die Zahl der Wehrdienstverweigerer in der DDR minimal war und die übergroße Mehrheit der männlichen Jugendlichen und Erwachsenen kein Problem mit Armee, Wehrkundeunterricht, vormilitärischer Ausbildung und "Betriebskampfgruppen" hatte, fragte er: "Wirkt hier womöglich noch immer jene Regime-Propaganda nach, die 'Frieden' nur dann gewährleistet sah, wenn es den Machtinteressen des Kreml diente, während das Verteidigungsbündnis der NATO als 'imperialistischer Kriegstreiber' verleumdet wurde?"
Martin wollte das ausdrücklich nicht als "typisch Ost" verstanden wissen. Der Sozialdemokrat Egon Bahr habe in der SPD-Zeitschrift "Vorwärts" die polnische Gewerkschaft Solidarność als "Gefahr für den Weltfrieden" bezeichnet. "Eine wahnwitzige Infamie." Statt anzuerkennen, dass die NATO und die Amerikaner "der Sowjetunion eindrücklich die Grenzen ihrer Expansionsmacht" aufgezeigt hätten, werde lieber geschichtsvergessen nostalgisch des "guten Zaren Gorbi" gedacht. Und Gerhard Schröder, "Duzfreund des Massenmörders im Kreml", werde von der SPD-Führung neuerdings wieder gewürdigt.
An der Stelle kam Martin auf Steinmeier zu sprechen. Der hatte 2016 - zwei Jahre nach der Krim-Annexion - als Bundesaußenminister die NATO-Manöver in Osteuropa als "lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul" kritisiert sowie mehr Dialog und Kooperation mit Russland gefordert, um die Lage nicht "weiter anzuheizen". Der Redner wiederholte "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" wie eine Frage im Sinne von: Das muss man sich mal vorstellen, was der Steinmeier damals gesagt hat.
"Sehr geehrter Herr Bundespräsident und bei allem Respekt: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern 'eine Brücke' - Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 - als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her. Und wiederum war mit beträchtlicher Arroganz überhört worden, wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde. Und es ist auch das bedrohte Osteuropa, das die Folgen zu tragen hat – in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand."
Nach dem Festakt zeigte Steinmeier Martin offen seinen Unmut. Der Schriftsteller teilte n-tv.de mit: "Er war heftig, auch in der Körpersprache und bebte sozusagen vor Wut. Geschrien hat er natürlich nicht, sondern in erregter und gleichzeitig wie metallischer Diktion sofort monologisierend losgelegt." Steinmeier habe ihm mehrfach "Diffamierung" vorgeworfen. Es gehe aber weder um Steinmeier noch ihn, sondern "um eine Tradition deutscher Verdrängungen und Osteuropa-Ignoranz, deren Preis heute die Menschen in der Ukraine zahlen".
Quelle: ntv.de