Politik

70 Jahre Befreiung "Es gibt keinen Schlussstrich"

2. Mai 1945: Ein sowjetischer Soldat hisst die sowjetische Flagge auf dem Berliner Reichstag.

2. Mai 1945: Ein sowjetischer Soldat hisst die sowjetische Flagge auf dem Berliner Reichstag.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die deutsche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit werde niemals abgeschlossen sein, sagt der Historiker Heinrich August Winkler im Reichstagsgebäude. Eine "deutsche Sondermoral" lasse sich mit der deutschen Geschichte allerdings auch nicht begründen.

Keiner der drei Redner kommt ohne Richard von Weizsäcker aus. Noch immer ist die Rede, die der im Januar verstorbene frühere Bundespräsident am 8. Mai 1985 hielt, das Maß aller Dinge, wenn an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert wird.

Heinrich August Winkler beschreibt Deutschlands "langen Weg nach Westen".

Heinrich August Winkler beschreibt Deutschlands "langen Weg nach Westen".

(Foto: dpa)

Das ist auch heute nicht anders. "Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung", mit diesem Weizsäcker-Zitat beginnt Bundestagspräsident Norbert Lammert die gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat. Als Weizsäcker vor 30 Jahren diesen Satz sagte, habe er "keineswegs eine allgemein vorhandene Einsicht formuliert", betont Lammert.

Auch der Historiker Heinrich August Winkler, der die Festrede hält, weist darauf hin, dass Jahrzehnte vergingen, bis die Deutschen verstanden, dass sie 1945 von sich selbst befreit wurden. Winkler, Lammert und auch der dritte Redner, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier in seiner Rolle als Bundesratspräsident, betonen ausdrücklich die Rolle der sowjetischen Soldaten bei dieser Befreiung.

Der schmerzhafte Weg nach Westen

Weizsäcker, sagt Winkler, habe die Deutschen gemahnt, den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen - den Tag der Machtergreifung Hitlers. Diese Machtergreifung, die ohne die Wahlerfolge der Nationalsozialisten nicht möglich gewesen wäre, erklärt Winkler als Folge der Vorbehalte der Deutschen gegenüber dem Modell der westlichen Demokratie.

Viele Deutsche hätten "einen langen und schmerzhaften Weg" zurücklegen müssen, um sich der deutschen Verbrechen zu stellen: der "einzigartigen Monstrosität des Holocaust", der Ermordung der Sinti und Roma, der Ermordung von Homosexuellen, der Kriegsverbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern. Winkler erwähnt die mindestens 800.000 Menschen, die bei der Belagerung von Leningrad ums Leben kamen; die barbarische Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die bewusst zu Tode gehungert wurden; die zahllosen Massaker, die von Wehrmacht und SS in Europa begangen wurden; die Misshandlung der Zwangsarbeiter.

"Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen", sagt Winkler. "Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht und sie wird es auch niemals sein." Niemand erwarte von den Nachgeborenen, dass sie sich schuldig fühlen. Zur Verantwortung für das eigene Land gehöre aber der Wille, sich der Geschichte dieses Landes zu stellen. Das gelte für alle Deutschen - für die, deren Vorfahren vor 1945 in Deutschland lebten, und für die, die erst später eingewandert seien oder erst noch Deutsche würden.

"Keine deutsche Sondermoral"

Für den "deutschen Weg nach Westen", den Winkler beschreibt, ist die Befreiung vom Nationalsozialismus das zentrale Ereignis. "In der deutschen Geschichte gibt es keine tiefere Zäsur als den Tag, dessen 70. Wiederkehr wir heute gedenken." Erst die Erfahrung der deutschen Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 habe dem Ressentiment der Deutschen gegen die politischen Ideen des Westens den Boden entzogen.

Bis hierhin erhält Winkler von allen Seiten des Hauses Applaus. Das hört auf, als er weitere Schlussfolgerungen zieht. Weder müsse man auf den Holocaust verweisen, um einen Völkermord zu verhindern, noch dürfe man die deutsche Geschichte anführen, um ein Heraushalten Deutschlands aus einer "Responsibility to Protect" zu rechtfertigen - mit diesem Begriff aus dem Völkerrecht werden militärische Interventionen zur Abwehr schwerer Menschenrechtsverletzungen legitimiert. "Jeder Versuch, mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus eine deutsche Sondermoral zu begründen, führt in die Irre", sagt Winkler. Beifall von den Linken bekommt er dafür nicht.

Eine Verpflichtung jedoch gebe es aus der deutschen Geschichte, so Winkler: Neben der Verantwortung für Israel gebe es eine "Pflicht zur Solidarität" mit jenen osteuropäischen Ländern, die Opfer des Hitler-Stalin-Paktes geworden seien und die erst 1990 ihre Souveränität wiedergewonnen hätten. Mit Blick auf die "völkerrechtswidrige Annexion der Krim" betont Winkler, dass die ostmitteleuropäischen Länder nie wieder den Eindruck gewinnen dürften, als werde zwischen Berlin und Moskau "irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden".

Quelle: ntv.de

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