Multikulti ist tot Es lebe Kuddelmuddel!
03.11.2010, 17:31 Uhr
Integration sieht anders aus (Kanzlerin Angela Merkel und der Geschäftsführer des Multikulturellen Forums, Kenan Kücük bei der Pressekoneferenz nach dem Gipfel).
(Foto: dapd)
Inmitten einer seit Wochen aufgeheizten Stimmung wollen 120 Politiker, Migranten-Vertreter sowie Repräsentanten aus Wirtschaft und öffentlichem Leben in wenigen Stunden der Integration zu einem neuen Schub verhelfen. Während das Kabinett einen "Aktionsplan" bemüht, stellen etliche Teilnehmer den Sinn des Gipfels in Frage.
Es geht um Zuwanderung sowie die Pflichten und Rechte von Migranten. Ein "Integrationsgipfel", der 4., soll der Einbürgerung einen neuen Schub geben. Dafür standen den 120 Teilnehmern im Kanzleramt einige Stunden zur Verfügung. Bei dem Treffen, an dem neben Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel, etlichen Bundesministern und Ministerpräsidenten auch 35 Migranten-Organisationen teilnahmen, forderte die Bundesregierung mehr Verbindlichkeit bei den Integrationsleistungen und -verpflichtungen ein. Dazu gehören Sprachkurse und eine bessere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse.
Doch eigentlich ist "Multikulti gescheitert", glaubt man den Worten der Kanzlerin. Am Ende des Gipfels versuchte Merkel, ihre Aussage ein wenig zu präzisieren.
Am Ende sollten klare Zielvorgaben bei Bildung, Deutschkenntnissen und Ausbildung stehen, die überprüft werden könnten, betonte die Integrationsbeauftragte der Regierung, Maria Böhmer. So sollen individuelle "Integrationsvereinbarungen" mit Migranten geschlossen werden. Das Familienministerium will zudem für die Sprachförderung in Kindergärten bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Innerhalb eines Jahres soll ein Maßnahmeplan mit dem hochtrabenden Namen "Nationaler Aktionsplan" stehen. Bei Bildung, Deutschkenntnissen und Ausbildung seien klare Zielvorgaben vorgesehen.
"Will uns die Bundesregierung vorführen?"
Diese Wunschvorstellungen stehen aber nach Ansicht von Migrantenverbänden in scharfem Gegensatz zur hitzigen Debatte dieser Tage. "Ich bin über die Diskussionen in den letzten Wochen und Monaten so enttäuscht, dass ich diesmal keine Erwartungen habe", sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschland, Kenan Kolat.
Bereits in den vergangenen Tagen hatte es Kritik an dem Gipfel gegeben, den SPD und Grüne als Alibiveranstaltung kritisiert hatten. "Man muss die Sinnhaftigkeit dieses Gipfels in Frage stellen", sagte auch Kolat. Migrantenorganisationen hätten vorab keine Tagesordnung erhalten. "Will uns die Bundesregierung vorführen?"
Etwa 650 Deutsche mit türkischen Wurzeln erinnerten in einem offenen Brief an die Gewalt gegen Ausländer, die nach der Asyldiskussion der 90er Jahre aufgeflammt ist: "Wir alle fühlen uns durch die derzeitige Diskussion diskreditiert." Die Diskussion über Defizite und Sanktionen empfinden sie als kontraproduktiv.
Auf Initiative von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte das Kabinett vor einer Woche unter anderem eine stärkere Kontrolle der Teilnahmepflicht von Zuwanderern an Integrationskursen beschlossen. De Maizière hatte von 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerern gesprochen, doch die Zahlen sind umstritten. Auch die Kanzlerin sagte noch kurz vor dem Integrationsgipfel, dass Integration "manchmal auch gar nicht versucht wird". Und CSU-Chef Horst Seehofer hatte sogar gesagt, "dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen".
Der Behauptung der Integrationsunwilligkeit von Einwanderern, durch die vor allem der frühere Berliner SPD-Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin Empörung ausgelöst hatte, stehen Zahlen mit anderer Aussage gegenüber: 2009 verpflichteten die Ausländerbehörden 2482 Zuwanderer, die schon länger in Deutschland sind, zu Integrationskursen - 99 Prozent nahmen nach einer Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge teil. Bei den Neuzuwanderern lag die Teilnahmequote bei 80 Prozent. Insgesamt gingen die Teilnahmequoten laut der Statistik seit 2005 deutlich nach oben.
Kommunen forderten stärkere Unterstützung
Etwa 10.000 Menschen stehen seit Herbst auf Wartelisten bei freiwilligen Kursen, weil es zu wenige Kurse gibt. Für mehr Integrationskurse fehle einfach das Geld, wie Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) im RBB sagte. Er warf der Bundesregierung vor, sie wolle einerseits eine bessere Integration von Migranten, streiche andererseits aber nötige Zuschüsse für die Kommunen.
"Wenn Kommunen präventiv werden sollen, brauchen sie dafür die finanziellen Spielräume", forderte auch die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU).
"Besonders ehrgeizig und bildungsorientiert"
Derzeit hat nur gut ein Zehntel (11 Prozent) der Studenten in Deutschland einen Integrationshintergrund, während der Anteil dieser Bürger an der Gesamtbevölkerung fast ein Fünftel ausmacht. Bei den 11 Prozent ist aber der Anteil der Studierenden, die aus einkommensschwächeren, hochschulfernen Familien kommen, besonders hoch. Mit 34 Prozent ist er fast drei Mal so hoch wie bei den Studierenden ohne Migrationshintergrund, wie aus einer Studie des Deutschen Studentenwerks (DSW) hervorgeht. "Jugendliche mit Migrationshintergrund aus ärmeren, bildungsfernen Verhältnissen, die es an die Hochschule schaffen, sind offenbar besonders ehrgeizig und bildungsorientiert", sagte DSW-Präsident Rolf Dobischat. Die absolute Zahl der Studenten mit Migrationshintergrund liegt bei 174.000.
Dem Integrationsgipfel zufolge soll jetzt Folgendes passieren: mehr Sprachförderung in Kindergärten, Individualförderung in Schulen, mehr Engagement in sozialen Brennpunkten. Es sollen exakte Integrationsziele, die dafür nötigen Mittel und Fristen zur Prüfung festgelegt werden. Rund 300.000 Zuwanderer sollen gewonnen werden durch die geplante bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse.
Bis 2015 Bedarf an Kursen decken
Die Regierung hole nun nach, "was 30 Jahre versäumt wurde", sagte Merkel. Alle Interessenten, rund 1,8 Millionen Menschen, sollten binnen fünf Jahren Integrationskurse besucht haben. 2011 plant die Regierung 218 Millionen Euro für die Kurse ein, nachdem in diesem Jahr die reguläre Summe einmalig um 15 auf 233 Millionen aufgestockt wurde.
Sie glaube aber nicht, "dass wir in allen Fragen der Integration dann schon am Ende unserer Arbeit sind". Die Kanzlerin beklagte, dass derzeit mehr Menschen Deutschland verließen als kämen. So gingen viele türkischstämmige Uni-Absolventen zurück in die Türkei.
Laut "Frankfurter Allgemeine Zeitung" könnte Deutschland ohne Zuwanderung in den kommenden zehn Jahren mehr Arbeitskräfte verlieren als jedes andere Industrieland. 2020 würden 75 Prozent mehr Arbeitskräfte in Rente gehen, als junge Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt kämen, berichtet die Zeitung unter Berufung auf Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Demnach ist unter den 28 untersuchten Ländern nur noch in Polen der Mangel an Nachwuchs ähnlich hoch.
Es bleibt noch viel zu tun
Die Kanzlerin bewertete das Treffen als Erfolg und sprach von einem "guten Gipfel". Merkel präzisierte nun ihre Aussage, "Multikulti ist gescheitert". Dies gelte insofern, als man in vergangenen Jahrzehnten davon ausgegangen sei, Integration sei bei einem bloßen "Nebeneinanderherleben" möglich, sagte sie. Man habe nicht gesehen, dass Integration vielmehr sehr viel Engagement und Kraft für die Gesellschaft bedeute. Der Geschäftsführer des Multikulturellen Forums, Kenan Kücük, hielt dagegen, dass die multikulturelle Gesellschaft längst "Realität" sei. Der Islam sei Teil der deutschen Gesellschaft, zitierte er Bundespräsident Christian Wulff.
Nach Angaben der Integrationsbeauftragten Böhmer stammt übrigens jeder 20. Arbeitsplatz in Deutschland von einem Unternehmen eines Migranten.
Quelle: ntv.de, hdr/dpa/rts/AFP