Politik

"Kein Fünf-Sterne-Hotel" Flüchtlinge schlafen auf dem Bürgersteig

10. September: In Spandau macht ein Flüchtling ein Selfie mit der Kanzlerin.

10. September: In Spandau macht ein Flüchtling ein Selfie mit der Kanzlerin.

(Foto: REUTERS)

Zwei Kilometer Luftlinie vom politischen Berlin entfernt übernachten Flüchtlinge im Freien, weil die Behörden noch immer überfordert sind. Die Syrer wundern sich, wie Europa hier aussieht.

"Hier muss Angela Merkel mal hinkommen, nicht nur Selfies mit Flüchtlingen machen!" Der junge Mann ärgert sich. Er steht vor dem Lageso, dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, das die Erstaufnahme von Flüchtlingen organisiert. Noch immer, Wochen nach dem ersten Ansturm, sind die Zustände hier unwürdig. Noch immer sind die Flüchtlinge auf die Hilfe von Freiwilligen angewiesen – wie den jungen Mann, der Lebensmittel verteilt und, wie er erzählt, gelegentlich Flüchtlinge in seiner Wohnung übernachten lässt.

Anfang August waren es noch sehr viel mehr Flüchtlinge. Sie übernachteten im Freien, hatten zu wenig zu trinken, nicht genug zu essen und keine sanitären Anlagen. Morgens zogen sie eine Nummer und warteten, dass sie an die Reihe kamen: um eine Unterkunft zugewiesen zu bekommen, um überhaupt registriert zu werden.

Geändert hat sich seither nur das Wetter. Mittlerweile regnet es häufiger, nachts ist es kalt. Am Abend fahren Busse vor, mit denen die Flüchtlinge in "Camps" gebracht werden sollen. Zum Beispiel nach Spandau, wo die Stadt auf dem Gelände einer Kaserne ein Zeltdorf für mehr als 700 Personen hat errichten lassen. Viele wollen aber nicht mitfahren. Sie haben ihre Ausweise im Lageso abgegeben und noch keine neuen Papiere bekommen. Sie wissen nicht, wohin die Busse fahren. Sie glauben, dass sie am Lageso bleiben müssen, um registriert zu werden.

Die Flüchtlinge wundern sich

Außerdem soll es extrem eng in den Zelten sein, sagt eine Frau, die ebenfalls Lebensmittel vor dem Lageso verteilt. Zwei Männer mit Krätze hätten am gestrigen Abend in ein solches "Camp" gebracht werden sollen. "Wir haben den Leuten gesagt, dass die doch alle anstecken, wenn sie mit anderen Flüchtlingen in ein Zelt gesteckt werden", so die Frau. "Die Antwort: Das ist doch hier kein Fünf-Sterne-Hotel."

Ein paar hundert Meter weiter hat sich die Lage deutlich beruhigt. Allabendlich wird am "Haus der Weisheit" warmes Essen ausgegeben, bis zu 150 Mahlzeiten. Am zweiten Augustwochenende hätten in der Moschee noch 150 Menschen übernachtet, danach wurden es immer weniger, sagt Nur Hajjir, die 25 Jahre alte Tochter des Imam, die dem Vorstand der Gemeinde angehört. Sie und andere Freiwillige gehen regelmäßig spätabends zum Lageso. Manchmal nehmen sie Familien mit, die dann in der Moschee schlafen können.

Viele Flüchtlinge seien verwundert, wie Europa hier aussehe, erzählt Nur Hajjir. Europa, das ist in diesem Fall der Berliner Stadtteil Moabit. Hier gibt es nicht nur das Haus der Weisheit und das Lageso, sondern auch türkische, indonesische, vietnamesische und viele andere Restaurants, ein Gefängnis mit Stacheldraht drumherum und die Traglufthallen an der Kruppstraße, eine Notunterkunft, die von der Berliner Stadtmission betrieben wird. Die Flüchtlinge wundern sich, dass ein Land wie Deutschland von ihnen überfordert ist. Zugleich hätten die meisten von ihnen positive Erfahrungen mit der deutschen Willkommenskultur gemacht und würden Dankbarkeit gegenüber Deutschland empfinden, sagt Hajjir, die Medizin studiert und ihr Engagement wegen der anstehenden Prüfungen ein wenig zurückgefahren hat. "Diese positiven Gefühle sind eine gute Voraussetzung dafür, dass die Geflüchteten mal aktive Mitglieder dieser Gesellschaft sein werden."

2000 syrische Pfund

Unter den jungen Männern, die an diesem Abend am Haus der Weisheit essen, sind auch zwei aus der syrischen Stadt Aleppo. 24 Tage hat ihre Flucht gedauert: erst in den Libanon, dann mit dem Schiff in die Türkei, für 1100 Dollar mit einem Schlauchboot nach Griechenland, mit dem Zug von Mazedonien nach Serbien. Für 1700 Dollar brachte sie ein Schlepper schließlich mit dem Auto von Belgrad nach Deutschland. Insgesamt haben sie 4000 Dollar für ihre Flucht ausgegeben. In der Türkei hätten sie nicht bleiben können, sagt einer der beiden, dort sei es schlecht, es gebe keine Jobs und die Mieten seien zu hoch. Sie hätten sich das Leben dort nicht leisten können.

In Berlin sind sie seit dem 23. Juli. Geld haben sie nicht mehr. Anderthalb Monate hätten sie mit 294 Euro auskommen müssen, die sie vom Lageso bekommen hätten. Eigentlich hätten sie dort heute neues Geld bekommen sollen – doch der Termin wurde verschoben, warum auch immer. 2000 syrische Pfund habe er noch, sagt der ältere der beiden lächelnd. Theoretisch sind das acht Euro, erklärt Nur Hajjir, die das Gespräch übersetzt. Aber in Berlin ist syrisches Geld nichts wert.

Einen Platz in einer Erstaufnahmeeinrichtung haben sie nicht, ihr Asylantrag wurde noch nicht einmal angenommen. Am Anfang schliefen auch sie im Haus der Weisheit, später in Hostels – das Lageso verteilt entsprechende Gutscheine. Die Behörde schafft es aber nicht, die Hostels einigermaßen pünktlich zu bezahlen. Entsprechend schwierig ist es für Flüchtlinge, ihre Gutscheine einzulösen. Es ist nach 20 Uhr, fast dunkel. Wo sie heute Nacht schlafen werden, wissen die beiden Männer aus Aleppo noch nicht, sagen sie. Unter einem Dach vor der Moschee liegen ein paar Männer auf Isomatten.

Sehr viel mehr Menschen liegen vor dem Lageso – meist Männer, aber auch Familien mit kleinen Kindern. Zwei Babys weinen. Als die Freiwilligen ihren Stand aufbauen, stellen sich die Flüchtlinge in einer Schlange auf. Morgen früh wird die Behörde wieder öffnen. Dann ziehen die Menschen eine Nummer und hoffen, dass es weitergeht. Auch die beiden Syrer werden dann wohl wieder hier stehen. Vor allem der ältere hofft, dass er endlich Papiere bekommt, die ihm bescheinigen, dass er in Deutschland bleiben darf. Er ist 38 Jahre alt, in Aleppo hat er eine schwangere Frau und zwei Kinder zurückgelassen. Wenn er seine Unterlagen hat, kann seine Familie bei der deutschen Botschaft in Beirut oder Ankara beantragen, ebenfalls nach Deutschland zu kommen. In weniger als einem Jahr, hofft er, könnte es so weit sein. Man kann ihm ansehen, dass es nicht leicht für ihn ist, seine Familie in Syrien zu wissen. Kann er sich vorstellen, dorthin zurückzukehren? Der Mann schüttelt den Kopf und schlägt die Hände aneinander, als wolle er sie säubern. In Syrien gebe es nichts als Zerstörung und Krieg.

Mit dem Taxi dauert es übrigens nur wenige Minuten vom Lageso zum Bundeskanzleramt. Selfies kann man dort auch machen.

Quelle: ntv.de

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