Politik

Interview mit Syriens Unicef-Chefin "Für Syrer ist Bildung eine Frage der Würde"

Mehr als sechs Millionen Syrer sind in Syrien auf der Flucht - wie diese Kinder, die aus der Stadt Aleppo geflohen sind.

Mehr als sechs Millionen Syrer sind in Syrien auf der Flucht - wie diese Kinder, die aus der Stadt Aleppo geflohen sind.

(Foto: REUTERS)

Syrien ist für Kinder einer der gefährlichsten Orte der Welt, sagt Hanaa Singer. "Und trotzdem: Wenn man Familien fragt, was sie sich – abgesehen von einem Ende der Gewalt – am meisten wünschen, dann nennen sie Zugang zu Bildung für ihre Kinder."

n-tv.de: Was brauchen Familien und Kinder in Syrien derzeit am dringendsten?

Hanaa Singer ist die Leiterin des UN-Kinderhilfswerks in Syrien.

Hanaa Singer ist die Leiterin des UN-Kinderhilfswerks in Syrien.

(Foto: picture alliance / dpa)

Hanaa Singer: Das Wichtigste, das sie brauchen, ist Frieden. Sie brauchen ein Ende des bewaffneten Konflikts, damit sie wieder normal leben können. Aber natürlich gibt es einen massiven Bedarf an völlig grundlegenden Bedürfnissen. Es gibt mehr als 13,2 Millionen Menschen in Syrien, die auf Hilfe angewiesen sind. Sie brauchen Nahrung, Wasser, Brennstoff, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsversorgung. Aber das Wichtigste ist ein Ende der Gewalt.

Angesichts des blutigen Bürgerkriegs wirkt es ein wenig wie Luxus, darüber zu sprechen, dass Syrer Zugang zu Bildung benötigen.

Ich habe vor zwei Wochen in Homs einen Zwölfjährigen getroffen, der fünf Mal vertrieben wurde. Jetzt war er obdachlos. "Mein einziger Traum ist, eine Nacht ohne das Geräusch von Beschuss zu verbringen", sagte er mir. Für Kinder und Jugendliche ist Syrien derzeit einer der gefährlichsten Orte der Welt. Und trotzdem: Wenn man Familien fragt, was sie sich – abgesehen von einem Ende der Gewalt – am meisten wünschen, dann nennen sie Zugang zu Bildung für ihre Kinder. Für Syrer ist es eine Frage der Würde, dass ihre Kinder zur Schule gehen können. Vor dem Krieg hatten in Syrien mehr als 99 Prozent der Kinder Zugang zu Bildung. Jetzt sind es nur noch 50 Prozent. Für die ist Bildung kein Luxus, es ist eine Lebensnotwendigkeit.

Spenden für syrische Kinder

Unicef sammelt Spenden, um syrischen Kindern in Syrien oder in Notunterkünften in den Nachbarländern helfen zu können. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

In Syrien gibt es 6,2 Millionen Binnenflüchtlinge. Warum bleiben die im Land?

Ich bin in Syrien unterwegs. Selbst in Aleppo, das mit am stärksten von den Kampfhandlungen betroffen ist, sagen viele Menschen: Wir bleiben, solange es irgend geht. Das gilt auch für die mehr als 200 Mitarbeiter, die in Syrien für Unicef arbeiten. Sie könnten bessere Jobs haben, aber sie bleiben. Syrer sind sehr stolz auf ihr Land. Jeder Mensch liebt sein Heimatland, aber in Syrien liebt man sein Land nicht, man ist verliebt in Syrien. Viele haben das Gefühl, sie müssten bleiben. Manche Familien, die ihre Kinder ins Ausland schicken, machen das, damit sie dort in Sicherheit sind. Aber ich bin sicher, dass alle Syrer davon träumen, zurück nach Syrien zu gehen. Mit Blick auf grundlegende Bedürfnisse hatten die Syrer vor dem Krieg ein vergleichsweise gutes Leben. Aber natürlich können viele Menschen das Land auch nicht verlassen, weil sie einfach nicht das nötige Geld haben.

Hat Unicef in Syrien Zugang zu allen Regionen?

Wir haben keinen Zugang zu belagerten Gebieten, in denen 422.000 Menschen leben.

Sind das die vom IS kontrollierten Gebiete?

Das betrifft die IS-Gebiete, aber auch andere Gebiete, die von anderen Konfliktparteien belagert werden.

Gibt es Kontakte zum IS?

Nein. In den belagerten Gebieten, auch in Gegenden, die der IS kontrolliert, versuchen wir über örtliche Partner zu helfen, etwa über den Syrisch-Arabischen Roten Halbmond oder örtliche NGOs, um wenigstens Impfkampagnen durchführen und Wasseraufbereitungstabletten schicken zu können – das absolute Minimum. Neben den 422.000 Menschen in belagerten Gebieten gibt es 4,2 Millionen Menschen in schwer zugänglichen Gebieten, die wir manchmal über Monate nicht erreichen können.

Würden Sie sagen, dass die Bundesregierung genug unternimmt, um in Syrien zu helfen?

Wir sind Deutschland sehr dankbar, für Syrien sind Sie der zweitgrößte Geldgeber. Sie stehen für das zivilisierte Gesicht der Menschlichkeit. Deutschland beteiligt sich vor allem an unserem Programm "No Lost Generation", bei dem es um Bildung und psychosoziale Hilfe geht. Dafür sind wir sehr, sehr dankbar. Im Moment sind wir in Gesprächen, um stärkere Unterstützung für unser Wasser-Programm zu bekommen. Die deutsche Regierung war wirklich sehr großzügig bei ihrer Hilfe für Syrien und die syrischen Nachbarländer. Aber wir können in Syrien noch mehr tun, um den Menschen zu helfen. Wir müssen noch mehr tun. Allein in Aleppo kostet es uns eine Million Dollar pro Monat, um Wasser mit Tankwagen in die Stadt zu bringen. Wasser für Aleppo ist im Moment unser zentrales Anliegen.

Halten Sie es für eine gute Idee, dass viele Länder derzeit versuchen, den IS mit Luftangriffen zu besiegen?

Militärische Interventionen sind ein politisches Thema, und Unicef kommentiert politische Fragen nicht. Allerdings rufen wir alle Konfliktparteien auf, sich an internationale Regeln zu halten und alle Vorkehrungen zu treffen, um die Sicherheit und den Schutz der Zivilisten sicherzustellen. Wir hoffen, dass politische Lösungen Vorrang haben, damit Frieden für die Menschen in Syrien erreicht wird.

Mit Hanaa Singer sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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