Gedenken an Oradour-sur-Glane SS-Massaker: Treffen der Enkel - keine Schuld, aber Verantwortung
10.06.2024, 10:01 Uhr Artikel anhören
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Oradour neu aufgebaut - neben dem alten Ort. Das zerstörte Dorf wurde zum Mahnmal.
(Foto: picture alliance / Franz-Peter Tschauner)
Am Montag gedenken Bundespräsident Steinmeier und Präsident Macron im französischen Oradour-sur-Glane des Massakers, das Deutsche dort vor 80 Jahren verübten. Mit dabei: die Enkelin eines Überlebenden und die Enkelin eines Mörders. Und Antworten auf die Frage nach Schuld und Verantwortung.
Alle Kriegsverbrechen sind fürchterlich. Aber es gibt Kriegsverbrechen, die sind so grauenhaft, dass sie das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen und sich tief in das kollektive Gedächtnis eingraben. Das Massaker von Oradour-sur-Glane gehört sicher dazu. Vor 80 Jahren hat die deutsche Waffen-SS nahezu alle Einwohner des französischen Dorfes ermordet und den Ort völlig zerstört. Unter Umständen, so grausam und unmenschlich, dass sie einem bis heute den Atem nehmen. Männer, Frauen und Kinder wurden erschossen oder lebendig verbrannt. Am Abend des 10. Juni 1944 waren 643 Menschen tot. Das gesamte Dorf stand in Flammen, lag später buchstäblich in Schutt und Asche.
Nur insgesamt 36 Menschen haben das Massaker von Oradour überlebt. Sie versteckten sich unter den Leichen ihrer Angehörigen, ihrer Nachbarn und Freunde, oder sie waren an diesem Tag durch Zufall nicht zu Hause. Einer der Überlebenden war der damals 19-jährige Mechaniker Robert Hébras. Seine Mutter Marie, seine 22-jährige Schwester Georgette und seine Schwester Denise, gerade neun Jahre alt, starben. Sein Vater überlebte, weil er einem befreundeten Bauern außerhalb von Oradour bei der Arbeit half, und seine älteste Schwester Leni, die bereits verheiratet war und nicht mehr in ihrem Heimatdorf wohnte.
Robert Hébras hätte jedes Recht gehabt, die Deutschen zu hassen. Die deutschen Besatzer hatten seine Mutter und zwei seiner Schwestern brutal ermordet, sie zerstörten sein Dorf und töteten fast alle Menschen, die er von klein auf kannte. Aber Hébras wählte einen anderen Weg. Nach dem Massaker in seinem Heimatdorf schloss er sich zunächst dem Widerstand gegen die Deutschen an, nach dem Krieg sagte er als Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen aus. Später, als der Krieg längst vorbei, aber noch lange nicht vergessen war, macht sich Hébras als Zeitzeuge und Buchautor einen Namen. Bis kurz vor seinem Tod im Februar 2023 führte der hochbetagte Franzose Besucher durch die Ruinen seines einstigen Heimatdorfes. Vor allem Schülern und Studenten widmete er viel Zeit, er gab Interviews, in denen er von dem schrecklichen Massaker berichtete. Dabei schonte er die Täter nicht, aber er hasste nicht: nicht die Nation, der sie angehörten, und nicht ihre Nachkommen, ihre Kinder und Enkel.
Enkelin eines Mörders
Eine dieser Nachkommen ist Karin Eideloth, deren Großvater Adolf Heinrich an dem grausamen Massaker von Oradour beteiligt war. Als 17-Jähriger hat er wehrlose Menschen erschossen, Männer, Frauen und Kinder. Ihr liebevoller Großvater, bei dem sie aufgewachsen ist, der dem kleinen Mädchen die Welt gezeigt hat, ein Mörder? Ja. Die Familie ist im Besitz von Kopien des schriftlichen Geständnisses, das Adolf Heinrich in den 1950er-Jahren abgelegt hat. Es gibt keinen Zweifel, er war einer der Mörder von Oradour.
Karin Eideloth ist heute 46 Jahre alt und lebt in der Nähe von München. Sie hat fünf Kinder im Alter zwischen 5 und 25 Jahren und ist eine Frau, die mitten im Leben steht. Vor fast sieben Jahren entschied sie sich, sich einem bis dahin dunklen Geheimnis zu stellen. Kurz vor Weihnachten 2017 hatte ihre ahnungslose Familie erfahren, dass der Großvater einer der Täter von Oradour war. "Wir wussten, dass der Opa im Krieg war, dass er verwundet war, auch dass er in Kriegsgefangenschaft war. Und das Narrativ war: Der Opa war in Ungarn. Und da war er ja auch, aber erst gegen Ende des Krieges."
Bis zu seinem Tod im Jahr 1985 hat Adolf Heinrich seiner Familie nicht die Wahrheit über seine Zeit bei der SS gesagt, nicht von der Schuld gesprochen, die er auf sich geladen hat. Es gibt unzählige deutsche Familien, deren Väter und Großväter, Brüder, Söhne und Ehemänner im Zweiten Weltkrieg zu Tätern wurden und die nie darüber gesprochen haben. Viele Familien sind an dieser Last zerbrochen. Als die Familie von Karin Eideloth die Wahrheit erfuhr, aus den Zeugenaussagen und dem Geständnis des Großvaters, war Adolf Heinrich seit mehr als 30 Jahren tot. Ihn konnte man nicht mehr fragen. Aber was Karin Eideloth tun konnte, war, sich der Verantwortung zu stellen, die aus der Schuld des Großvaters resultierte, und Kontakt zu einem Überlebenden aufzunehmen. Zu Robert Hébras.
Nicht sofort, das brauchte seine Zeit, wie sie ntv.de erzählt: "Ich habe das nicht hopplahopp entschieden. Das ist ein Prozess, der dauert jetzt sieben Jahre, und den gehe ich Schritt für Schritt. Zwischendurch mache ich auch mal Pause, weil es auch belastend ist. Für mich und auch für meine Familie. Ich setze mich aber intensiv mit dem Thema auseinander, weil es mir auch dabei hilft, meine eigene Familiengeschichte zu verstehen. Es hat sich einfach richtig angefühlt, diesen Weg zu gehen. Stück für Stück."
"Dennoch war da immer ein Schuldgefühl"
2022, knapp sechs Jahre, nachdem die Wahrheit über die Familie hereingebrochen ist, war Karin Eideloth dann bereit, nach Oradour-sur-Glane zu fahren, an den Ort, der für die Franzosen zum Sinnbild des Naziterrors geworden ist, an dem ihr Großvater beteiligt war. "Im Verlauf dieser Reise kam die Frage auf, ob ich Robert Hébras treffen möchte. Ich habe sofort Ja gesagt, aber ich hatte große Angst vor diesem Treffen und bin mit zitternden Knien zu ihm nach Hause gegangen. Und es war unbeschreiblich. Einer seiner ersten Sätze zu mir war: 'Es ist nicht deine Schuld.' Das war so etwas wie ein Eisbrecher, denn natürlich hatte ich Angst, für etwas verurteilt zu werden, das ich nie getan habe. Aber Robert Hébras hat mich sofort mit offenen Armen empfangen." Karin Eideloth beschreibt ihr eigenes Gefühl gleichzeitig vage und völlig klar: "Ich wusste immer, dass ich nicht schuld bin. Dennoch war da immer ein Schuldgefühl. So konkret kann ich das gar nicht beschreiben. Natürlich weiß ich, dass ich nichts getan habe. Aber ich empfinde schon dadurch, dass ich nun mal da reingeboren wurde, eine gewisse Verantwortung."
So wie die Täter von damals Kinder und Enkelkinder haben, gibt es auch Nachfahren auf der Seite der wenigen Überlebenden. Agathe Hébras ist die Enkeltochter von Robert Hébras, die nach dem Tod des Großvaters dessen Werk fortsetzt und über die schrecklichen Ereignisse von 1944 aufklärt, auch sie ohne Hass und Bitterkeit. Für Karin Eideloth muss sich der Kontakt zu Agathe Hébras wie ein kleines Wunder anfühlen. "Es ist wirklich sehr herzlich. Wir kennen uns erst seit April persönlich. Wir tauschen uns regelmäßig aus. Sie war im Mai in München, da haben wir uns getroffen."
Am Montag sehen sich die beiden Frauen wieder. Karin Eideloth begleitet den Bundespräsidenten nach Frankreich. Frank-Walter Steinmeier reist auf Einladung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach Oradour-sur-Glane, um am 80. Jahrestag des Massakers der Toten zu gedenken. Macron hat Agathe Hébras eingeladen, dabei zu sein.
Margot Friedländer, die 102-jährige Holocaust-Überlebende, wird seit Jahren nicht müde, der Enkel-Generation zu sagen: "Ihr seid nicht schuld. Aber es ist eure Verantwortung, dass es nie wieder geschieht." Karin Eideloth und Agathe Hébras leben diesen Gedanken und geben ihn an die nächste Generation weiter.
Quelle: ntv.de