"Wir spielen nicht James Bond" Geheimdienste sprechen Klartext über Russland


BND-Chef Martin Jäger (l.), MAD-Chefin Martina Rosenberg und der neue Präsident des Verfassungsschutzes, Sinan Selen, warnten vor der Bedrohung durch Russland.
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Die deutschen Geheimdienste schlagen Alarm - insbesondere Russland sieht in Deutschland einen Feind und überzieht das Land mit hybriden Angriffen. BND, Militärischer Abschirmdienst und Verfassungsschutz fordern mehr Befugnisse.
Geheimdienstler neigen zur Verschwiegenheit, doch an diesem Vormittag entscheidet sich Martin Jäger anders. Der neue Chef des Bundesnachrichtendienstes ist zu einer Anhörung in den Bundestag gekommen. Ein offenes Wort nach dem anderen verliest er in seinem Eingangsstatement vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium, das die deutschen Geheimdienste kontrolliert.
"In Europa herrscht bestenfalls ein eisiger Friede, der punktuell jederzeit in eine heiße Konfrontation umschlagen kann", sagt er vor den Ausschussmitgliedern, deren Vorsitzender der CDU-Abgeordnete Marc Henrichmann ist. "Wir müssen uns auf weitere Lageverschärfungen vorbereiten." Russland wolle die Nato unterminieren, europäische Demokratien destabilisieren und einschüchtern. "Europa soll, von Furcht und Handlungsstarre gelähmt, in die Selbstaufgabe getrieben werden."
Russland bediene sich bekannter Mittel: Manipulation von Wahlen und öffentlicher Meinung, Propaganda, Provokation, Desinformation, Einschüchterung, Spionage und Sabotage bis hin zu Auftragsmorden sowie Luftraumverletzungen durch Drohnen und Kampfflugzeuge. "Nichts davon ist neu", sagt Jäger. "Doch in ihrer Häufung stellen diese Einzelereignisse eine neue Qualität der Konfrontation dar."
Mehr als 1000 Luftalarme miterlebt
Jäger weiß, wovon er spricht - nicht nur weil er Geheimdiensterkenntnisse hat. Bevor er Chef des Bundesnachrichtendienstes wurde, war er gut zwei Jahre lang als deutscher Botschafter in der Ukraine. "Ich habe mehr als 1000 Luftalarme miterlebt", sagt er später während der Fragerunde, sowie Luftangriffe, "wo Sie dann merken, wie die Wände wackeln, wenn eine Rakete einschlägt". Und diese Erfahrung scheint ihn motiviert zu haben, in dieser Anhörung kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Geheimdienst hin oder her.
"Wenn Sie aus der Ukraine zurückkommen, wo Sie diesen sense of urgency, dieses fast schon bedrückende Gefühl der Dringlichkeit erleben, und dann in Berlin landen, dann staunen Sie", sagt er den Abgeordneten. Er glaube nicht, dass man mit Alarmismus viel erreiche. "Der nutzt sich ab." Aber er hoffe auf den Nationalen Sicherheitsrat, den Union und SPD im Kanzleramt installiert haben. Eine seiner Aufgaben ist es, ein Lagebild zu erstellen.
Genau das sieht Jäger als vordringliche Aufgabe an. "Wir müssen wissen, was unser Gegner vorhat, wo sich Gefahren auftun." Dabei geht es nicht nur um Deutschland. Die Nato-Ostflanke, aber auch der Nahe und Mittlere Osten, Nordafrika oder der West-Balkan - überall ist Russland aktiv. Oder wie es Jäger in seiner Beamtensprache ausdrückt: Dort "vollziehen sich Entwicklungen, die unsere Interessen und unsere Sicherheit unmittelbar beeinträchtigen können". Aus dem Lagebild müsste die Bundesregierung "Handlungsoptionen" ableiten. "Ich sage es sehr direkt: Wir müssen unsere Gegner konfrontieren, wo immer dies nötig ist."
Jäger war nicht allein zum Parlamentarischen Gremium gekommen. Neben ihm saßen Sinan Selen, der neue Chef des Bundesverfassungsschutzes und Martina Rosenberg, die Chefin des Militärischen Abschirmdienstes, dem Geheimdienst, der für die Bundeswehr zuständig ist. Selen und Rosenberg sprechen zwar auch über andere Herausforderungen - Islamisten und Rechtsextreme zum Beispiel.
"Es passiert, wir können es sehen und wir dürfen es nicht zulassen"
Doch auch bei ihnen dominiert Russland die Ausführungen. "Gegnerische Akteure intensivieren ihre nachrichtendienstlichen Aktivitäten mit dem Ziel, die Bundeswehr zu unterwandern, kritische militärische Infrastruktur zu gefährden und die Stabilität unserer Streitkräfte sowie der gesamten Nato-Allianz zu unterminieren", sagt Rosenberg. Selen sagt, allein im September habe es eine Vielzahl von Störungen von GPS-Navigation und Luftraumverletzungen durch russische Kampfjets und Drohnen gegeben. "Russland überschreitet brandgefährliche Grenzen", warnt er. "Fakt ist: Es passiert, wir können es sehen und wir dürfen es nicht zulassen."
Nur was tun? Die drei Geheimdienst-Vorsitzenden haben einige Forderungen an die Politik mitgebracht. Mehr Rechte bei der Nutzung von Daten, so wie es andere Staaten bereits dürfen. Anpassung der Gesetze an die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz. Mehr Befugnisse gegenüber Betreibern von Sozialen Netzwerken und anderen Internetplattformen - beispielsweise um Desinformationskampagnen zu stoppen oder Tatverdächtige zu identifizieren.
Doch BND-Chef Jäger wird noch grundsätzlicher. "Ein ukrainischer Front-Offizier sagte mir einmal: 'Der Krieg wird nicht auf dem Terrain gewonnen, sondern in den Köpfen'." Auf die richtige Einstellung komme es an, sagt er in seinem Eingangsstatement. Später präzisiert er: "Man muss gewillt sein, dem Gegner Widerstand entgegenzusetzen." Deutschland sei aus russischer Sicht Zielland Nummer 1 in Europa. Weil es die Ukraine unterstützt und, wie er in Anspielung an die geplante Aufrüstung der Bundeswehr sagt, weil es außenpolitisch "extrem handlungsfähig" wirke. "Wollen wir diese Vorgänge einfach weiter beobachten und verzeichnen oder kommen wir an einen Punkt, wo wir nicht doch mal aktive Gegenmaßnahmen ergreifen müssen?"
Wie das aussehen könnte? Darüber bleibt der Geheimdienstler dann doch etwas wolkig. "Wir spielen nicht James Bond, keine Sorge", sagt Jäger. "Aber ich wünsche mir, dass unser Dienst etwas operativer und wagemutiger wird."
Quelle: ntv.de